Die Strafbarkeit der Anbindehaltung – Diskrepanz zwischen Fachliteratur und Praxis

Ist es strafbar, Rinder dauerhaft anzuketten? PETA erstattete über 50 Anzeigen gegen Personen, die Rinder in Anbindehaltung halten, und zieht ein Zwischenresümee.

 „Die Anbindehaltung ist so ausgestaltet, dass die Tiere weiterhin Zugang zu Futter und Wasser haben und sich nach eigener Entscheidung hinlegen oder aufrichten können“, heißt es in Einstellungsmitteilungen der Staatsanwaltschaft München I[1]Staatsanwaltschaft München I, Aktenzeichen 232 UJs 722341/23; Staatsanwaltschaft München I, Aktenzeichen 232 UJs 722340/23. auf Strafanzeigen von PETA. Mit dieser Begründung lehnte sie die Strafbarkeit von Tierhalterinnen ab, die Rinder dauerhaft angekettet im Stall hielten.

Dass sich Rinder hinlegen und aufrichten können, ist zwar richtig, allerdings können sie in der Anbindehaltung nicht mehr als das. Offenbar werden ihre Bedürfnisse von der Staatsanwaltschaft München I reduziert auf „Essen, Trinken, Aufstehen und Hinlegen“.[2]Vgl.: Hahn/Kari, Leiden Nutztiere unter ihren Haltungsbedingungen? – Zur Ermittlung von Leiden in Tierschutzstrafverfahren, NuR 2021, 599-607, … Weiterlesen Selbst sich im Kreis drehen oder ihren Kot an einer anderen Stelle als an ihrem dauerhaften Liegeplatz absetzen, können sie nicht. Rinder in Anbindehaltung verbringen ihr Leben teilweise dauerhaft angekettet an einem Platz von der Größe einer Zimmertür, dicht gedrängt neben anderen Rindern. Unter naturnahen Bedingungen grasen Rinder ca. 12 Stunden täglich im langsamen Vorwärtsschritt und bewegen sich bis zu 12 km pro Tag.[3]Hirt, in: Hirt/Maisack/Moritz/Felde, Tierschutzgesetz, 4. Auflage 2023, Anh. § 2 Rn. 2, 7. Rinder haben individuelle Freundschaften, halten aber gerne eine räumliche Distanz zu ihren Artgenossen.[4]Hirt, in: Hirt/Maisack/Moritz/Felde, Tierschutzgesetz, 4. Auflage 2023, Anh. § 2 Rn. 2, 7 m.w.N. All dies ist in der Anbindehaltung nicht möglich.

Die Formen der Anbindehaltung

Etwa 11 % der Rinder werden für die Milchwirtschaft und 9 % der Rinder für die Fleischwirtschaft werden in Deutschland angebunden gehalten.[5]Statistische Ämter des Bundes und der Länder „Landwirtschaft im Wandel – erste Ergebnisse der Landwirtschaftszählung 2020. Dies entspricht 1,1 Millionen Rindern,[6]Expertise for animals, Die Ketten lösen: Eine umfassende Untersuchung der Anbindehaltung von Rindern, … Weiterlesen etwa der Anzahl der Bewohner:innen von Köln.[7]Expertise for animals, Die Ketten lösen: Eine umfassende Untersuchung der Anbindehaltung von Rindern, … Weiterlesen Es gibt verschiedene Formen der Anbindehaltung, doch sie haben gemeinsam, dass die Rinder einen längeren Zeitraum angekettet und dadurch in ihren natürlichen Verhaltensweisen erheblich eingeschränkt sind. Unter der sogenannten Kombinationshaltung ist von der Jahreszeit unabhängig eine grundsätzlich andauernde Anbindung zu verstehen, mit Zeiträumen, in denen sie ausnahmsweise nicht angebunden sind.[8]Expertise for animals, Die Ketten lösen: Eine umfassende Untersuchung der Anbindehaltung von Rindern, … Weiterlesen In der saisonalen Anbindehaltung werden Rinder in den Sommermonaten auf Weideflächen verbracht. Die acht Wintermonate verbringen sie am Hals fixiert im Stall. In der ganzjährigen Anbindehaltung sind die Rinder permanent und ausnahmslos angekettet. Diese Haltungsform schränkt die Bedürfnisse der Rinder am stärksten ein. 48 % der 1,1 Millionen Rinder werden in der ganzjährigen Anbindehaltung gehalten.[9]Expertise for animals, Die Ketten lösen: Eine umfassende Untersuchung der Anbindehaltung von Rindern, … Weiterlesen

Ein nicht verhaltensgerechtes und verwaltungsrechtswidriges Haltungssystem

Die Haltungsform der Anbindehaltung unterbindet nahezu alle arttypischen Grundbedürfnisse der Rinder i.S.d. § 2 Nr. 1 Tierschutzgesetz (TierSchG) und Verhaltensweisen i.S.d. § 2 Nr. 2 TierSchG.[10]Hirt, in: Hirt/Maisack/Moritz/Felde, Tierschutzgesetz, 4. Auflage 2023, Anh. § 2 Rn. 2 m.w.N; Bülte, Anbindehaltung – Keine rechtliche Grauzone, sondern illegale Routine, … Weiterlesen

Alle Funktionskreise wie das Sozialverhalten, die Fortbewegung, die Fortpflanzung, das Ruhen, das Erkunden und die Nahrungsaufnahme werden in unzumutbarer Weise eingeschränkt.[11]Expertise for animals, Die Ketten lösen: Eine umfassende Untersuchung der Anbindehaltung von Rindern m.w.N., … Weiterlesen Erschwerend kommt hinzu, dass Anbindeställe häufig schlechte Lichtverhältnisse und schlechtes Stallklima aufweisen und Rinder nur gegen eine karge Wand schauen können. Oft sind die Liegeflächen zu kurz für die groß gezüchteten Rinder, sodass sie mit dem Becken oder Euter auf dem Gitterrost oder in der Kotrinne liegen müssen. Dies verursacht erhebliche körperliche Probleme. Die Rinder können sich nicht belecken und dadurch Kotreste im Fell entfernen. Dies führt zu Euterentzündungen, Parasitenbefall und Hauterkrankungen.[12]LAVES Niedersachsen, Tierschutzleitlinie für die Milchviehhaltung, 2007, S. 21. Es ist weithin üblich, den Schwanz der Rinder zur Verschmutzungsminimierung festzubinden, was weitere Verhaltenseinschränkungen verursacht. Durch die fehlende Bewegungsmöglichkeit entstehen Entzündungen der Gelenke, Lahmheit und Klauenfäule. Der fehlende Abrieb ist ursächlich für überlange Klauen, die sogenannten „Stallklauen“.[13]LAVES Niedersachsen, Tierschutzleitlinie für die Milchviehhaltung, 2007, S. 21; Expertise for animals, Die Ketten lösen: Eine umfassende Untersuchung der Anbindehaltung von Rindern m.w.N., … Weiterlesen

Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit[14]EFSA (2009). Scientific report on the effects of farming systems on dairy cow welfare and disease. sowie das Niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit((LAVES, … Weiterlesen kritisieren die Anbindehaltung. Verwaltungsgerichte[15]VG Münster, Beschl. v. 20. 12. 2019 – 11 L 843/19; OVG Lüneburg, Beschl. v. 29. 7. 2019 – 11 ME 218/19.) und auch der Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucherschutz des Bundesrates((BR-Drs. … Weiterlesen haben die Haltungsform als nicht verhaltensgerecht und daher als verwaltungsrechtswidrig angesehen. Auch im Koalitionsvertrag von 2021-2025 ist die Beendigung der Anbindehaltung festgehalten.[16]Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/ Die Grünen, FDP, 2021— 2025, https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf [zuletzt abgerufen am 04.10.2023. Die Liste der oben zitierten kritischen Stimmen in der öffentlichen Debatte ist nicht abschließend.

Einschätzung in der juristischen Fachliteratur: Anbindehaltung ist regelmäßig strafbar

Zahlreichen Autor:innen der juristischen Fachliteratur zufolge ist die Anbindehaltung über die Verletzung von § 2 TierSchG hinaus regelmäßig strafbar.[17]Hirt, in: Hirt/ Maisack/Moritz/Felde, Tierschutzgesetz 4. Auflage 2023 § 17 Rn. 100b; Hahn/Kari, Leiden Nutztiere unter ihren Haltungsbedingungen? – Zur Ermittlung von Leiden in … Weiterlesen Gemäß § 17 Nr. 2 lit. b) TierSchG wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer einem Wirbeltier länger anhaltende oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt.

Jens Bülte, Strafrechtsprofessor an der Universität Mannheim, führt in seinem Artikel „Anbindehaltung – Keine rechtliche Grauzone, sondern illegale Routine“ in zutreffender Weise aus:

„Wenn also die Veterinärmedizin und die Tierverhaltenswissenschaft (Ethologie) zu dem – selbst für Laien naheliegenden – Schluss kommen, dass ein Rind, das sich über Monate kaum bewegen, weder ungehinderte Körperpflege betreiben noch sich arttypisch sozial verhalten kann, dadurch erhebliche psychische und physische Nachteile erleidet, dann lässt das juristisch nur einen Schluss zu: Dem Tier werden erhebliche länger andauernde Leiden zugefügt“.[18]Bülte, Anbindehaltung – Keine rechtliche Grauzone, sondern illegale Routine, https://verfassungsblog.de/anbindehaltung-keine-rechtliche-grauzone-sondern-illegale-routine/ [zuletzt abgerufen am … Weiterlesen

PETA erstattet Strafanzeigen

Trotz der eindeutigen juristischen Literatur wurden Personen, die Rinder in Anbindehaltung halten, bislang nicht verurteilt. Juristische Kommentarliteratur, welche die Anbindehaltung im Rahmen des § 17 Nr. 2 lit. b) TierSchG für zulässig erachtet, gibt es nicht. Und dennoch werden unverständlicherweise nicht einmal Ermittlungen eingeleitet. PETA Deutschland ging im Jahr 2023 gegen die strafbare Haltungsform vor und erstattete über 50 Strafanzeigen. Doch die Staatsanwaltschaften weigern sich bislang, das Tierschutzgesetz anzuwenden. Ca. 30 Ermittlungsverfahren wurden gemäß § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung eingestellt, auf weitere 20 Anzeigen blieb eine Reaktion der Staatsanwaltschaften aus. Zu einer Anklageerhebung kam es in keinem einzigen Fall. Die Gründe für die Einstellungen sind vielfältig, teilweise zynisch und absurd. Juristisch haltbar sind sie nicht. Dies zeigen einige Beispiele:

Fehlende Auseinandersetzung mit dem Tatbestandsmerkmal „Leiden“

Nach gefestigter Rechtsprechung sind unter dem Tatbestandsmerkmal „Leiden“ alle Beeinträchtigungen des physischen oder psychischen Wohlbefindens zu verstehen, die über ein schlichtes Unbehagen hinausgehen und eine nicht ganz unwesentliche Zeitspanne fortdauern.[19]BGH, Urt. v. 18. 2. 1987 – 2 StR 159/86; OLG Karlsruhe, Urt. v. 29. 10. 2015 – 3 Ss 433/15. Dazu gehören auch psychische Leiden.[20]Hirt, in: Hirt/ Maisack/Moritz/Felde, Tierschutzgesetz 4. Auflage 2023 § 17 Rn. 106; Hahn/Kari, Leiden Nutztiere unter ihren Haltungsbedingungen? – Zur Ermittlung von Leiden in … Weiterlesen

Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth[21]Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth, Aktenzeichen 222 Js 12453/23; ähnlich: Staatsanwaltschaft Ravensburg, Aktenzeichen 57 Js 8698/23. begründete eine Einstellung damit, dass „keine eingewachsenen Ketten oder Technopathien (haltungsbedingte Erkrankungen) festgestellt worden seien“.

Die Staatsanwaltschaft verkennt, dass es sich bei dem Tatbestandsmerkmal „Leiden“ nicht zwingend um körperliche Leiden handeln muss. Diese Feststellungen mögen das Fehlen erheblicher Schmerzen belegen, aber nicht das Fehlen erheblicher Leiden.[22]Bülte, Massentierhaltung – Ein blinder Fleck bei der Verfolgung von Wirtschaftskriminalität?, NJW 2019,19. Wenn Rinder alle wesentlichen Funktionskreise nicht ausüben können, ist deshalb die Verhaltensstörung „erzwungenes Nichtverhalten“ als Leidensindiz festzustellen.[23]Hirt, in: Hirt/ Maisack/Moritz/Felde, Tierschutzgesetz 4. Auflage 2023, Anh. § 2, Rn. 17b, § 17 Rn. 100b. Es kommt nicht darauf an, ob das Tier das Leiden auch zum Ausdruck bringt.[24]OLG Karlsruhe v. 29.10.2015 – 3 Ss 433/15, 3 Ss 433/15 – AK 170/15; ausführlich zur Feststellung von Leiden insbesondere bei „stillen Leidern“ wie Rindern Hahn/Kari, Leiden Nutztiere unter … Weiterlesen

In einigen Fällen wurden die Einstellungen damit begründet, dass die Rinder nicht in ganzjähriger Anbindehaltung gehalten wurden, sondern in der saisonalen Anbindehaltung oder Kombinationshaltung.[25]Etwa: Staatsanwaltschaft München II, Aktenzeichen 12 Js 48450/22.

Dem ist entgegenzusetzen, dass die Tiere bereits nach wenigen Tagen in Anbindehaltung erheblich leiden, also in allen Formen der Anbindehaltung.[26]Bülte, Anbindehaltung – Keine rechtliche Grauzone, sondern illegale Routine, https://verfassungsblog.de/anbindehaltung-keine-rechtliche-grauzone-sondern-illegale-routine/ [zuletzt abgerufen am … Weiterlesen Überdies verfügen Tiere nicht über ein Zeitempfinden wie Menschen. Es ihnen nicht möglich, derart lange Zeiträume wie bei der saisonalen Anbindehaltung zu überblicken.[27]Bruhn/Wollenteit/Hoffmann, Rechtsgutachten, Tierschutzrechtliche Defizite in der Milchkuhhaltung – Dringender Reformbedarf zur Abschaffung normativer Regelungslücken m.w.N., … Weiterlesen

Die Staatsanwaltschaft Landshut[28]Staatsanwaltschaft Landshut, Aktenzeichen 207 Js 30511/23. führte in ihrer Begründung aus, dass die Anzeige „über die Anbindehaltung hinaus keinen Vortrag enthalte, aus dem sich Anhaltspunkte für eine Strafbarkeit ergäben“.

Hieraus wird deutlich, dass sie sich nicht mit der Kommentierung in der juristischen Fachliteratur zum Tatbestandsmerkmal „Leiden“ auseinander gesetzt hat. Die Strafbarkeit der Anbindehaltung zog sie offenbar trotz zahlreicher in der Strafanzeige zitierter Fundstellen nicht ernsthaft in Betracht.

Normhierarchie von Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung (TierSchNutztV) und TierSchG

Einige Staatsanwaltschaften begründeten die Einstellungen damit, dass die Anbindehaltung nicht durch die TierSchNutztV verboten sei.[29]Etwa: Staatsanwaltschaft Landshut, Aktenzeichen 208 Js 2110/23; die Einstellung bestätigend: Generalstaatsanwaltschaft München, Aktenzeichen 300 Zs 1023/23. Ein Verbot der Anbindehaltung ergebe sich hieraus nur für unter sechs Monate alte Rinder (§ 5 S. 1 Nr. 3 TierSchNutztV).

Die fehlende Regelung in der TierSchNutztV zum Verbot der Anbindehaltung von Rindern, die älter als sechs Monate sind, führt aber nicht zu dem Schluss, dass die Anbindehaltung rechtmäßig sei. Die TierSchNutztV ist eine Konkretisierung der Inhalte des Tierschutzgesetzes, namentlich des § 2 TierSchG.[30]Metzger, in: Lorz/Metzger, Tierschutzgesetz, 7. Auflage 2019, Vorbemerkung Rn. 9. Es regelt als solche nur absolute Mindestanforderungen.[31]Bülte/Felde/Maisack, Reform des Tierschutzrechts, 2022, S. 35; Hirt, in: Hirt/ Maisack/Moritz/Felde, Tierschutzgesetz 4. Auflage 2023 TierSchNutztV § 1 Rn. 5. Vorschriften, die nicht mit dem in der Normenhierarchie höher angesiedelten TierSchG übereinstimmen, würden die Grenzen der Verordnungsermächtigung des § 2a TierSchG i.V.m. § 2 TierSchG überschreiten.[32]Bülte/Felde/Maisack, Reform des Tierschutzrechts, 2022, S. 34 m.w.N.. Dies hat auch der Bundesgerichtshof entschieden: Was das Gesetz verbietet, kann keine Verordnung zulassen.[33]BGH, NJW 1987, NJW Jahr 1987 Seite 1833. Eine Verordnung kann die Regelungen und Wertungen des TierSchG nicht aushebeln; erst recht keine Verordnungsregelung, die es nicht einmal gibt. Eine generelle Erlaubnis der Haltungsform ergibt sich nicht aus der fehlenden Regelung in der TSchNutztV und spricht nicht gegen die Anwendbarkeit der Strafnorm § 17 Nr. 2 lit. b) TierSchG. [34]Bülte/Felde/Maisack, Reform des Tierschutzrechts, 2022, S. 34 m.w.N..

Die Staatsanwaltschaft Traunstein[35]Staatsanwaltschaft Traunstein, etwa Aktenzeichen 540 Js 11098/23, 540 Js 12649/23, 540 Js 12651/23. erachtete die Anbindehaltung unter  Verweis auf die „Bayerische Tierschutzleitlinie für die Haltung von Mastrindern und Mutterkühen“[36]Bayerisches Staatsministerium für Umwelt- und Verbraucherschutz, Bayerische Tierschutzleitlinie für die Haltung von Mastrindern und Mutterkühen, 6.2., hier ist nur bei Neubauten die Anbindehaltung … Weiterlesen für zulässig.

Doch hier gilt die obige Argumentation ebenfalls. Die Tierschutzleitlinie eines Bundeslandes kann die Regelung des Tierschutzgesetzes des Bundes nicht aufheben.

Verbreitung der Haltungsform

Die Staatsanwaltschaft München I begründete ihre Einstellungen mit dem Fehlen des Vorsatzes, da die Anbindehaltung regelmäßig geduldet werde.[37]Staatsanwaltschaft München I, Aktenzeichen 232 UJs 722341/23; 232 UJs 722340/23; ebenfalls: ((Staatsanwaltschaft Stuttgart, Aktenzeichen 172 Js 22206/23, die Einstellung bestätigend: … Weiterlesen

Für die Frage des Vorsatzes ist jedoch entscheidend, ob der Täter/die Täterin hinsichtlich der Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale vorsätzlich handelt. Wer Rinder über einen längeren Zeitraum anbindet, nimmt in Kauf, dass alle wesentlichen Verhaltensweisen nicht ausgeübt werden können und die Tiere in der Folge leiden. Die Anbindehaltung steht schon lange in der Kritik und auch die Strafbarkeit der Anbindehaltung wird öffentlich diskutiert. Halter:innen ist zuzumuten, dieser Debatte zu folgen und sich mit den Leiden auseinanderzusetzen, die durch die Anbindehaltung entstehen. Aus der langjährigen Duldung der Haltungsform folgt daher nicht zwangsläufig das Nichtvorliegen des Vorsatzes.

 Ein Verbotsirrtum i.S.d. § 17 StGB wäre überdies angesichts der öffentlichen Diskussion über die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung und der eindeutigen juristischen Fachliteratur allenfalls unbeachtlich, da er vermeidbar gewesen wäre.[38]Vgl. Bülte, Massentierhaltung – Ein blinder Fleck bei der Verfolgung von Wirtschaftskriminalität?, NJW 2019,19. Wie eingangs beschrieben, gibt es nur juristische Kommentarliteratur, welche die Anbindehaltung für strafbar hält. Es handelt sich hierbei keineswegs um eine Mindermeinung sondern wird neben zahlreichen juristischen Aufsätzen auch im Standardwerk zum Tierschutzgesetz von Hirt/Maisack/Moritz/Felde[39]Hirt, in: Hirt/ Maisack/Moritz/Felde, Tierschutzgesetz 4. Auflage 2023, Anh. § 2, Rn. 17b, § 17 Rn. 100b. thematisiert.

Die Staatsanwaltschaft Weiden in der Oberpfalz führte an, „es sei nicht ersichtlich, warum grade diese Landwirte, anders als andere Landwirte, die die Anbindehaltung praktizieren, sich strafbar gemacht haben sollen“.[40]Staatsanwaltschaft Weiden in der Oberpfalz, Aktenzeichen 217 AR 228/23, 217 AR 204/23.

Im Strafrecht kann aber eine verbreitete Verhaltensweise niemals die gesetzlich bestimmte Strafbarkeit aufheben.[41]Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Saliger, StGB, 6. Auflage 2023, § 1 Rn. 65. Die allgemeine Verbreitung der Anbindehaltung spricht nicht für eine Erlaubnis dieser.[42]Bülte/Felde/Maisack, Reform des Tierschutzrechts, 2022, S. 34. Das heißt: Nur weil es viele machen, bedeutet es nicht, dass es rechtens ist. Vollzugsdefizite im Bereich des Tierschutzrechts begründen grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen von Tierhalter:innen auf Fortsetzung ihres bisherigen Verhaltens.[43]BVerwG, Urteil vom 13.6.2019 – 3 C 28/16 = NJW 2019, 3096; BVerwG, Beschl. v. 8.11.2016 – 3 B11/16 = NVwZ 2017, 404. 

Forderungen

Die Anbindehaltung ist Tierquälerei und muss gemäß § 17 Nr. 2 lit. b) TierSchG bestraft werden. Es liegt im öffentlichen Interesse, dass solche Handlungen beziehungsweise Haltungsformen strafrechtlich verfolgt werden. Dies ergibt sich aus dem Staatsziel „Tierschutz“ (Artikel 20a Grundgesetz), welches die Verpflichtung zur Gewährleistung eines effektiven Tierschutzrechts einschließt. Die Weigerung der mit dem Anklagemonopol ausgestatteten Staatsanwaltschaften, das Recht anzuwenden, beruht auf sachfremden Erwägungen. Dem sollte primär mit Mitteln der behördlichen Binnenhierarchie entgegengewirkt werden. Notfalls ist eine überobligatorische Normkonkretisierung nötig, um die Rechtsanwendung sicherzustellen.

 Der Ausstieg muss schnellstmöglich erfolgen und nicht erst, wie ein Referentenentwurf der Bundesregierung vorsieht, ab dem Jahr 2028[44]Koch, Anbindehaltung: Özdemir will sie ab 2028 verbieten, Agrarheute, … Weiterlesen oder gar erst nach einer zehnjährigen Übergangsfrist. Ein Grund, ein solches strafbares Verhalten für eine Übergangszeit zu dulden, ist nicht ersichtlich. Dass die Anbindehaltung in der Vergangenheit überhaupt toleriert wurde, ist ein Beleg für die strukturellen Schwächen des Tierschutzrechts, aber kein Grund, die rechtswidrige Praxis weiterhin ungehindert fortzuführen. Im Rahmen der Novelle des Tierschutzgesetzes ist die Ausarbeitung von großzügigen Ausstiegskonzepten und umfangreichen Beratungskonzepten für die Landwirt:innen wünschenswert.

Nur so kann endgültig erreicht werden, dass das Leiden der angeketteten Rinder umgehend beendet und dem Staatsziel Tierschutz Rechnung getragen wird. Es wird Zeit, dass Rinder nicht länger als Objekte gesehen werden, die wie Fahrräder in dunklen Räumen festgekettet werden, sondern als fühlende Individuen mit Recht auf Bewegung, körperliche Unversehrtheit und Freiheit.

Website | Beiträge

Ist seit März 2023 Teil des Rechtsteams bei PETA in Berlin und befasst sich schwerpunktmäßig mit tierschutzrechtlichen Themen.

Quellen[+]