Die Qualzucht im System Intensivtierhaltung

Dass tierische Mitbewohner zielgerichtet darauf gezüchtet werden, mit Kulleraugen, platter Nase und kurzen Beinen das sogenannte Kindchenschema zu erfüllen, wissen mittlerweile viele – und dass diese Tiere durch die einseitige Zucht gesundheitliche Leiden haben, auch. Doch wer denkt, das Thema Qualzucht würde nur Möpse, Bulldoggen oder Nacktkatzen wie Sphynx-Katzen betreffen, irrt. Denn auch Tiere in der industriellen Tierwirtschaft werden selektiv gezüchtet. Aber in diesem Bereich wird nicht auf ein bestimmtes Aussehen gezüchtet, sondern auf Hochleistung – und das macht die Tiere systematisch krank.

Die Tierzucht im Landwirtschaftssektor

Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) bezeichnet als Tierzucht „alle Maßnahmen zur Verbesserung und Erhaltung der genetischen Eigenschaften von Nutztieren. Grundsätzlich werden dabei Tiere mit gewünschten Eigenschaften – die also einem vorher formulierten Zuchtziel entsprechen – miteinander verpaart.“[1]https://www.bmel.de/DE/themen/tiere/nutztiere/tierzucht/tierzucht_node.html [zuletzt abgerufen am 19.04.2023]. Entscheidend für die Zuchtziele seien „leistungsbezogene“ Merkmale wie die „Milchleistung“ einer Kuh oder die „Legeleistung“ einer Henne.[2]https://www.bmel.de/SharedDocs/Meldungen/DE/Presse/2021/210726-nachhaltige-tierzucht.html [zuletzt abgerufen am 19.04.2023].

Ausmaß der Hochleistungszüchtung

Beispiel Rinder

Rinder der Züchtung Holstein-Friesian beispielweise haben ihre „Laktationsleistung“ in den vergangenen 50 Jahren mehr als verdoppelt.[3]Statista, Milchleistung je Kuh in Deutschland in den Jahren 1900 bis 2022, … Weiterlesen Bei ca. 300 Tagen „Melkeinsatz“ im Jahr gibt eine Kuh über 60 kg Milch am Tag. Im Jahr 1900 lag die durchschnittliche jährliche Milchleistung einer Kuh noch bei ca. 2.165 Litern.[4]Hirt, in: Hirt/Maisack/Moritz/Felde, Tierschutzgesetz 4. Auflage 2023 § 11b Rn. 22. Heute entnimmt man einem Holstein-Friesian-Rind etwa 10.000 Liter Milch pro Jahr.

Doch diese extremen Leistungen belasten den Organismus der Tiere übermäßig und bringen zwangsläufig Gesundheitsstörungen mit sich. So führt beispielsweise die Heranzüchtung extrem milchgebender und deshalb auch sehr schwerer Euter bei den Kühen regelmäßig zu akuter Mastitis (Euterentzündung). Dies ist eine bakterielle Entzündung der Brustdrüse, die nicht nur bei stillenden (menschlichen) Müttern, sondern auch bei dauerhaft milchgebenden Kühen auftritt. Eine „Milchkuh“ erleidet in ihrem Leben durchschnittlich mehr als eine chronische Erkrankung. Wenn sie etwa 40.000 kg Milch gegeben hat, wird sie mit ca. 4,5 Jahren getötet. Dann hat sie „als Milchkuh ausgedient“. Normalerweise haben Rinder eine Lebenserwartung von 15 bis 20 Jahren.[5]Bruhn, Wollenteit, Hoffmann, Tierschutzrechtliche Defizite in der Milchkuhhaltung – Dringender Reformbedarf zur Abschaffung normativer Regelungslücken (Rechtsgutachten), S. 3, … Weiterlesen

Beispiel Hühner

Hühner werden für die Mast so gezüchtet, dass sie heutzutage täglich etwa 68 Gramm zunehmen – fast 350 % mehr als vor 60 Jahren. Gleichzeitig stieg in diesem Zeitraum auch die Zahl der „Tierverluste“.[6]Herbrich, Das System Massentierhaltung im Verfassungsrecht, 2022, S. 177 m.w.N. Ein plötzlicher Herztod ist bei Hühnern, die für die Mast gezüchtet werden, keine Seltenheit. Die Zucht auf eine hohe Gewichtszunahme führt dazu, dass der Brustmuskel ca. 30 % des Gewichts des Huhns ausmacht.[7]Herbrich, Das System Massentierhaltung im Verfassungsrecht, 2022, S. 178 m.w.N. Durch die einseitige Zunahme an der Brust zur Befriedigung der Wünsche von Konsument:innen kommt es auch zu Gleichgewichtsproblemen. Etwa 80 bis 90 % der Tiere können nicht mehr aufstehen oder laufen, ohne nach vorne umzukippen. Es kommt zu zuchtbedingten Verhaltensstörungen.[8]Hirt, in: Hirt/Maisack/Moritz/Felde, Tierschutzgesetz 4. Auflage 2023 § 11b Rn. 27.

Sogenannte Legehennen werden auf eine hohe „Eizahl“ gezüchtet. Die Vorfahren der heutigen „Legehennen“, die Bankivahühner, legten bis zu 40 Eier pro Jahr.[9]Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt, Legehennen, https://albert-schweitzer-stiftung.de/massentierhaltung/legehennen [zuletzt abgerufen am 12.05.2023]. Heute sind sie gezwungen, ca. 310 Eier jährlich zu legen.[10]Jede Legehenne in Deutschland legte im Jahr 2020 im Schnitt 301 Eier, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2021/PD21_13_p002.html [zuletzt abgerufen am 12.05.2023].

Sie neigen dadurch unter anderem zu Osteoporose. Eine Studie der Universität Bern ergab, dass ca. 97 % der „Legehennen“ eine Fraktur im Brustknochen haben, bedingt durch den Kalzium-Mangel, der durch das häufige, angezüchtete Eierlegen entsteht. Viele Brustknochen der Hennen waren mehrfach und teilweise bis zu elf Mal gebrochen.[11]Radiographic Evaluation of Keel Bone Damage in Laying Hens—Morphologic and Temporal Observations in a Longitudinal Study, https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fvets.2020.00129/full [zuletzt … Weiterlesen Entzündungen der Eileiter sind so üblich, dass sie zynischerweise als „Berufskrankheit der Legehennen“ bezeichnet werden.[12]Hirt, in: Hirt/Maisack/Moritz/Felde, Tierschutzgesetz 4. Auflage 2023 § 11b Rn. 30.

Ist die Qualzucht verboten?

Es ist wissenschaftlich belegt, dass die Zucht auf einseitige Nutzleistung ursächlich für die hohen Krankheits- und Mortalitätsraten ist. Dr. Bert Herbrich, Autor des Werkes „Das System Massentierhaltung im Verfassungsrecht“, bezeichnet sie unter dem Gesichtspunkt des Tierleids als eines der absoluten Kernprobleme der Massentierhaltung.[13]Herbrich, Das System Massentierhaltung im Verfassungsrecht, 2022, S. 226.

Doch ist eine solch selektive Zucht erlaubt oder verstößt sie gegen das Tierschutzgesetz (TierSchG)?

Nach § 11b Abs. 1 Nr. 2 lit. a) und c) TierSchG ist es verboten, Wirbeltiere zu züchten, soweit im Falle der Züchtung züchterische Erkenntnisse erwarten lassen, dass als Folge der Zucht bei den Nachkommen mit Leiden verbundene erheblich bedingte Verhaltensstörungen auftreten oder die Haltung nur unter Schmerzen oder vermeidbaren Leiden möglich ist oder zu Schäden führt.

Ein Verstoß gegen § 11b TierSchG ist eine Ordnungswidrigkeit. Wertet man allerdings die Auswirkungen der Leistungszüchtung auf die Tiergesundheit und ihr Verhalten aus, gelangt man zu dem Schluss, dass auch der Straftatbestand des § 17 Nr. 2 lit. b) TierSchG erfüllt ist.[14]Herbrich, Das System Massentierhaltung im Verfassungsrecht, 2022, S. 226.

Denn den erfüllt, wer einem Wirbeltier länger anhaltende oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt. Dass die Züchtung auf Hochleistung für zahlreiche schmerzhafte Krankheiten und Verhaltensstörungen der oben genannten Tiere verantwortlich ist, ist – wie zuvor skizziert – wissenschaftlich belegt.

Keine Anwendung des Qualzuchtverbotes – staatliches Kalkül?

Trotz der oben geschilderten Zustände gibt es selbst nach 20 Jahren seit Inkrafttreten des § 11b TierSchG keine strafrechtliche Verurteilung nach §§ 17 Nr. 2 lit. b), 11b TierSchG im Bereich der Massentierhaltung[15]Herbrich, Das System Massentierhaltung im Verfassungsrecht, 2022, S. 226 m.w.N., obgleich der Gesetzgeber keine Einschränkungen zulasten von Tieren im System Intensivtierhaltung gegenüber „Haustieren“ gemacht hat.

„Wirtschaftliche Interessen stehen der Beendigung der Qualzucht entgegen“, stellt Herbrich fest: „In der Wissenschaft ist man seit langem davon überzeugt, dass das zuständige Bundesministerium (BMEL) die Nichtbeachtung des Qualzuchtverbotes und die Verstöße gegen die Norm durch die Agrarwirtschaft aus Profitdenken in Kauf nimmt.“[16]Herbrich, Das System Massentierhaltung im Verfassungsrecht, 2022, S. 226 (unter Verweis auf Tropitzsch, Das Qualzuchtverbot, 2006, S. 195 m.w.N.).

Er schreibt auch: „Es ist reine Bigotterie, wenn die Bundesregierung auf der einen Seite die Massentierhaltung mit Millionensubventionen fördert, mit der Steigerung von weltweiten Exporten vorantreibt und die Züchter der Massentierhaltung mit allen Mitteln vor Sanktionen der Qualzucht schützt und auf der anderen Seite die Verbraucher darauf hinweist, dass sie durch den Kauf nachhaltiger tierischer Produkte die Zuchtziele beeinflussen könnten.“[17]Herbrich, Das System Massentierhaltung im Verfassungsrecht, 2022, S. 233.

Dass das BMEL sich vornehmlich für die Interessen der Züchter:innen einsetzt, anstatt gegen Qualzuchten anzugehen, zeigt die finanzielle Förderung des Projektes „Erfolgsgeschichte Tierzucht“, hinter dem vor allem Vertreter:innen der Schweine- und Rinderzuchtlobby stehen.[18]Förderverein Bioökonomieforschung e.V., Erfolgsgeschichte Tierzucht, https://zuchterfolge.de/ [zuletzt abgerufen am 19.04.2023]. Beispielsweise dürfte das mangelnde Interesse, ein Qualzuchtverbot hinsichtlich der Holstein-Friesian-Rinder durchzusetzen, damit zu erklären sein, dass Milcherzeugnisse den größten Betriebszweig der deutschen Landwirtschaft ausmachen.[19]Bundesinformationszentrum Landwirtschaft, Milch, https://www.landwirtschaft.de/landwirtschaftliche-produkte/wie-werden-unsere-lebensmittel-erzeugt/tierische-produkte/milch [zuletzt abgerufen am … Weiterlesen

Doch wirtschaftliche Interessen rechtfertigen es nicht, Tiere durch das Züchten auf „Hochleistung“ quälerisch auszubeuten. Jedes staatliche Handeln muss den Aspekt der Qualzucht berücksichtigen; auf legislativer, exekutiver und judikativer Ebene.

Forderungen an das BMEL, die Veterinärämter und die Justiz

Die zentrale Frage bei der Durchsetzung des Qualzuchtverbotes ist, wann die Grenze zur Qualzüchtung überschritten ist. Eine Konkretisierung des § 11b TierSchG lehnte die Bundesregierung bisher ab, um den Entscheidungsspielraum der Behörden bei der Bewertung, wann der Tatbestand der Qualzucht erfüllt sei, nicht zu beschneiden.[20]Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aus 2010, BT-Drs. 17/3798, S. 2.

Doch gerade hier liegt das Problem: Die Durchsetzung der Behörden scheitert vornehmlich an dem Fehlen klarer Qualzucht-Standards.[21]Bruhn, Wollenteit, Hoffmann, Tierschutzrechtliche Defizite in der Milchkuhhaltung – Dringender Reformbedarf zur Abschaffung normativer Regelungslücken (Rechtsgutachten), S. 41, … Weiterlesen

Dabei hat das BMEL durch die Verordnungsermächtigung des § 11b Abs. 4 TierSchG die Möglichkeit, Qualzuchten näher zu bestimmen sowie bestimmte Qualzuchten zu verbieten. Von dieser Möglichkeit sollte das BMEL Gebrauch machen, um bestehende Vollzugsdefizite zu verringern.

Zudem haben die Veterinärbehörden das Thema Qualzucht ernst zu nehmen. Dazu zählt, neben § 18 auch § 11b TierSchG konsequent anzuwenden. Bei begangenen oder drohenden Verstößen gegen § 11b Abs. 1 TierSchG findet § 16a Abs. 1 S. 1 TierSchG Anwendung. Danach obliegt es der zuständigen Behörde, die notwendigen Anordnungen zur Beseitigung festgestellter Verstöße und zur Verhütung künftiger Verstöße zu treffen. In Betracht kommt der Widerruf einer nach § 11 TierSchG erteilten Erlaubnis (§ 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG). Außerdem sieht § 11b Abs. 2 TierSchG die Möglichkeit vor, die Unfruchtbarmachung von Elterntieren anzuordnen, bei deren Nachkommenschaft das Vorliegen von Qualzuchtmerkmalen zu erwarten ist.

Aber auch die Gerichte und Staatsanwaltschaften müssen endlich anerkennen, dass das Tierschutzgesetz jedes tierliche Individuum schützt – es mithin auch in den Bereichen der industriellen beziehungsweise leistungsbezogenen Tierzucht gilt. Das bedeutet auch, dass sie hier folgerechterweise § 17 TierSchG als Strafgesetz anzuwenden haben.

Dass der Qualzucht-Paragraf – wenn überhaupt – ausschließlich bei Hunden und Katzen[22]vgl. folgende Beispiele: VG Berlin, Urteil vom 23.09.2015 – VG 24 K 202.14; VG Hamburg, Beschluss vom 04.04.2018 – 11 E 1067/18; AG Kassel, Urteil vom 05.11.1993 – 626 Js 11179.8/93., nicht aber bei sogenannten Nutztieren angewendet wird, zeigt, wie auch die Justiz von Speziesismus geprägt ist. Speziesismus bezeichnet die ungerechtfertigte Benachteiligung anderer Lebewesen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit. In Bezug auf „Nutztiere“ bedeutet dies regelmäßig, dass physische und seelische Beeinträchtigungen der Tiere als „normal“ hingenommen werden.

Erste Erfolge

Erfreulicherweise erhält das Thema Qualzucht auch im System Intensivtierhaltung zunehmend Aufmerksamkeit. Verschiedene Organisationen setzten sich neben PETA für eine Konkretisierung der Qualzucht ein: So wurde beispielsweise das Qualzucht-Evidenz-Netzwerk „QUEN“ ins Leben gerufen, um wissenschaftsbasierte Fakten über Qualzuchten zu sammeln und damit die Öffentlichkeit, Veterinärbehörden, Gerichte und politische Entscheidungsträger:innen zu informieren und aufzuklären.[23]Qualzucht-Evidenz Netzwerk, Die Idee und das Projekt QUEN, https://qualzucht-datenbank.eu [zuletzt abgerufen am 19.04.2023].

Die Bundestierärztekammer hat sich mit der Arbeitsgruppe „Qualzucht bei Nutztieren“ mit Qualzuchten auseinandergesetzt und Forderungen an den Gesetzgeber formuliert.[24]Bundestierärztekammer, Pressemitteilung: Die BTK konstituiert Arbeitsgruppe „Qualzucht bei Nutztieren“, https://www.bundestieraerztekammer.de/presse/2019/01/Qualzucht-bei-Nutztieren.php [zuletzt … Weiterlesen Gleichwohl muss die Rolle der Tierärzt:innen kritisch betrachtet werden, denn sie profitieren wirtschaftlich von Behandlungen im Zusammenhang mit Qualzuchten.

 Ausreichend sind diese ersten Schritte nicht. Das Thema Qualzucht muss endlich durch staatliche Stellen in den Fokus genommen und einer praktikablen Grundlage zugeführt werden – etwa durch konkrete und umsetzbare Vorgaben.

 Was kann ich tun?

Jede:r von uns kann Leid verhindern. Eine wichtige Bedeutung hat unser Einkaufszettel. Jede Kaufentscheidung trägt dazu bei, ob wir Leid verursachen oder minimieren. Durch eine vegane Ernährung und Lebensweise kann jede:r von uns dabei helfen, der Ausbeutung von Tieren ein Ende zu bereiten. Durch die Teilnahme an Demonstrationen, das Unterschreiben von Petitionen oder durch die Mitwirkung auf politischer Ebene können wir fordern, dass Qualzuchten endlich beendet werden.

 

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war im Frühjahr 2021 Rechtspraktikantin bei PETA Deutschland e.V. in Berlin und unterstützt den Tierrechtsblog in ihrer Freizeit weiterhin.

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Ist seit März 2023 Teil des Rechtsteams bei PETA in Berlin und befasst sich schwerpunktmäßig mit tierschutzrechtlichen Themen.

Quellen[+]