Vom schwierigen Verhältnis der Tierrechtstheorien zu den New Ecologies
Christine Korsgaards (Tier-)Ethik trägt im englischen Original den Titel „Fellow creatures“. In der deutschen Übersetzung wurde daraus die Formulierung „Tiere wie wir“. Wer sich für Tierrechte interessiert und engagiert, dürfte diese Übersetzung sympathisch finden: Schließlich erinnert sie überdeutlich an die Nähe von Menschen und (anderen) Tieren und scheint dementsprechend ganz auf der Linie der evolutionären Überzeugung zu liegen, dass uns lediglich graduelle Unterschiede von anderen Tieren trennen. Und trotzdem: Korsgaards Ansatz würde man missverstehen, wenn man in ihm lediglich die Paraphrase einer evolutionsbiologischen Tatsache zu erkennen meinte. Der dritte Teil dieser Besprechung legt daher einen Schwerpunkt auf die Rolle von moralischen Asymmetrien.
Zwei Gegenpositionen: Teleologische Ethiken und New Ecologies
Schon die vorherigen Teile dieser Buchbesprechung haben darauf hingewiesen, dass Korsgaards Ethik an die Moralphilosophie Immanuel Kants anknüpft, die von einer starken Asymmetrie von Menschen und Tieren ausging. Für tierrechtsbezogene Fragen scheint diese Ausgangslage einigermaßen ungünstig – zumindest würde man erwarten, dass eine dezidiert tierethische Reflexion der kantischen Ethik mit dieser Asymmetrie bricht, sich also stark von den kantischen Vorannahmen entfernt. Die Intuition, dass eine Ethik, die Tierrechte begründen kann, egalitär in dem Sinne funktionieren müsse, dass sie jegliche Unterschiede zwischen Menschen und (anderen) Tieren rundheraus in Abrede stellt, ist daher ebenso beliebt wie falsch – zumindest, wenn man die Argumente Korsgaards zugrunde legt.
Im zweiten Teil der Besprechung war bereits die Rede davon, wie Korsgaard die Rolle von Rationalität und Moral zueinander in Beziehung setzt, um teleologische Überzeugungen zurückweisen zu können: Überzeugungen also, die die gesamte Wirklichkeit einschließlich der Tiere als auf den Menschen hingeordnet begreifen. Solche teleologischen Überzeugungen, die dem Wortursprung nach auf den griechischen Begriff „telos“, d. h.: „Ziel“ zurückgehen, besagen, dass Tiere ihr Lebensziel darin finden, Menschen zu dienen – während sie philosophie- und theologiegeschichtlich meist in größere metaphysische Konzepte (wie insbesondere die christliche Rezeption der aristotelischen Naturphilosophie) eingebettet waren. In ihrem Kern sind sie auch heute noch immer dort zu finden, wo argumentiert oder impliziert wird, dass andere Tiere für uns Menschen existieren. Heute denken wir vielfach, dass teleologische Überzeugungen dieser Art kaum noch vorkommen – aber das Gegenteil dürfte der Fall sein. Wer nur einmal aufmerksam mediale Veröffentlichungen zu tierethischen Fragen verfolgt, wird schnell feststellen, wie lebendig die Überzeugung ist, dass Tiere „für den Menschen da“ oder – religiös gesprochen – „für ihn gemacht bzw. geschaffen“ seien: Da ist dann die Rede davon, dass Schweine ihre Organe „spenden“, dass Beagle an Tierexperimenten „teilnehmen“ oder dass Kühe Milch „geben“. Die gesamte Wirklichkeit erscheint plötzlich auf den Menschen hingeordnet zu sein; und selbst übergriffigste Handlungen wirken dann wie Prozesse, die vollkommen natürlich ablaufen. Selbst ohne ihre metaphysischen Vorannahmen kommen teleologische Überzeugungen also durchaus häufig in unserem Alltag vor. Umso wichtiger sind Korsgaards Argumente, um auch die modernen Adaptionen der Teleologie entkräften zu können.
Dieser dritte und letzte Teil der Besprechung schaut nicht mehr auf das Problem der (modernen) Teleologie, hat aber einen ebenso konkreten Anlass: Es geht darum, einem weiteren hochproblematischen Konzept zu begegnen, das vor allem in den vergangenen Jahren viel Zuspruch erfahren hat, und dies mitunter auch von Tierrechtler:innen. Genau genommen geht es dabei um eine ganze Gruppe an ähnlichen Konzepten, die zumeist unter den Begriffen „Biozentrismus“, „Ökozentrismus“, „Animismus“, „New Materialism“ oder auch allgemein unter dem Schlagwort der „New Ecologies“ bzw. „Neue Ökologien“ firmieren. Korsgaard selbst bezieht sich in ihrem Buch eher am Rande auf diese Konzepte, allerdings scheinen mir ihre Argumente zentral, um die problematische Dimension dieser vielfach bejubelten Neuansätze und damit auch die Aktualität und Brisanz von Korsgaards Arbeit beleuchten zu können.
Tierrechte und/oder Rechte der Natur?
Dass die New Ecologies auch bei Tierrechtler:innen großes Interesse wecken, hat wohl vor allem damit zu tun, dass beide Denkrichtungen den Begriff des Rechts in den Fokus nehmen: Tierrechtler:innen fordern Rechte für Tiere, Vertreter:innen der New Ecologies treten (zumindest überproportional häufig) dafür ein, dass „der Natur“ insgesamt Rechte zugestanden werden. So betrachtet, scheinen beide Perspektiven also einiges gemeinsam zu haben – zumindest auf den ersten Blick: Denn in aller Regel wird man feststellen, dass die Neuen Ökologien die Forderung nach moralischen Rechten ebenso inflationär wie zugleich hochgradig selektiv verwenden. Rechte werden entweder unspezifisch für „die Natur“ gefordert, oder aber für Planeten, Ökosysteme, Flüsse, Berge und Pflanzen – besonders Farne, Flechten und vor allem Bäume (die ja bekanntlich die Menschen unter den Pflanzen sind!) stehen weit oben in der Gunst der Neuen Ökologien. Zu expliziten Tierrechten schweigen sich diese Ansätze hingegen auffallend häufig aus.
In der öffentlichen und teilweise auch in der wissenschaftlichen Wahrnehmung dieser Ansätze wird dieser blinde Fleck trotzdem selten thematisiert. Wir tendieren dazu, die großzügige Gleichsetzung von Tieren, Pflanzen, Bergen, Flüssen & Co., die die Neuen Ökologien vorgeblich betreiben, als probates Mittel gegen den Anthropozentrismus zu verstehen: Die Annahme, dass allein der Mensch im Zentrum der moralischen Wirklichkeit stehe, scheinen beide Zugänge überwinden zu wollen. So ergibt sich dann schnell die Wahrnehmung, dass „biozentrische“ oder „ökozentrische“ Ansätze das Gegenteil des überkommenen Anthropozentrismus und insofern sinnvolle Korrekturmaßnahmen darstellen. Zumindest kann man wohl festhalten, dass beide Konzepte gleichermaßen extrem sind, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Während der Anthropozentrismus eine einzige Spezies dieses Planeten moralisch privilegiert, kehren die Neuen Ökologien diese Radikalität in ihr Gegenteil um und erklären rundheraus alles Lebendige (teilweise sogar alles Vorhandene) für moralisch bedeutsam: Vollkommen unkritisch werden Tiere dann mit Mineralien, Steinen, Flüssen, Pflanzen, Bergen und ganzen Planeten moralisch gleichgesetzt – und jeder Versuch, Unterscheidungen zu begründen, gilt dann schnell als „kolonial“ oder „hegemonial“.
Die rote Seite der grünen Neuansätze
Verschärfend kommt hinzu, dass die Neuen Ökologien Tiere und konkrete Tierrechtsforderungen nicht nur auffallend häufig aus dem Blick verlieren, vielmehr kann man beobachten, dass sie Gewalt an Tieren durchaus explizit affirmieren. Sie lehnen zwar offensichtlich grausame, industrielle Formen der Gewalt ab, tendieren aber vielfach dazu, jene Formen der Gewalt an Tieren positiv wahrzunehmen, die möglichst „natürlich“ erscheinen: Vor allem die Jagd auf Tiere wird von vielen Vertreter:innen dieser Ansätze als vermeintlich akzeptablere Umgangsweise wahrgenommen (und aktiv ausgeübt: Aldo Leopold etwa, der als einer der Gründungsfiguren dieser Bewegung gilt und heute bisweilen regelrecht heroisiert wird, war aktiver Jäger). Ein ums andere Mal zeigt sich so, dass die vermeintlich „grünen“ und ökologischen Neuansätze eine tiefrote Seite haben, sobald es um Tiere und deren moralische Ansprüche geht.
Nicht notwendig speziesistisch: Das Argument einer moralischen Asymmetrie
Liest man Korsgaards Ethik vor dem Hintergrund dieses Problems, dann wird man ihr Plädoyer für moralische Asymmetrien vielleicht etwas deutlicher wertschätzen können – sie betont ausdrücklich, dass Kant mit dem Gedanken einer moralischen Asymmetrie recht behalten habe. Aus einer Tierrechtsperspektive scheint diese Einschätzung zunächst irritierend, weil Kant diese Asymmetrie vor allen Dingen normativ ausbuchstabiert hat und so eine werthaltige Differenz von Menschen und (anderen) Tieren ins Stammbuch der Moralphilosophie eingetragen hat, die heutigen Tierethiker:innen zu Recht missfällt.
Bei Korsgaard, die genau gegenteilig dazu versucht, die moralischen Ansprüche von Tieren nicht gegen die von Menschen auszuspielen, findet sich hingegen eher ein Blick auf deskriptive Asymmetrien. Ihre Argumente gehen mit anderen Worten davon aus, dass der Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren nicht darin liegt, dass Tiere nicht über Selbstbewusstsein oder ein Selbst verfügten: Er besteht vielmehr darin, „dass wir menschliche Wesen eine besonders aktive und verantwortliche Rolle in der Konstitution unseres Selbst, unseres Geistes und unserer je eigenen Identität spielen.“[1]Korsgaard, Christine M., Tiere wie wir – Warum wir moralische Pflichten gegenüber Tieren haben, C.H. Beck, 2021, S. 55 Menschen seien aktiv und beständig darum bemüht, sich eine „schlüssige Vorstellung von der Welt im Ganzen zu machen“[2]S. 54 – und das Mittel, mit dem wir dies tun, ist die Vernunft. Anders als Kant hebt Korsgaard aber hervor, dass die Vernunft gerade keine moralische Herausgehobenheit des Menschen erlaube, also durchaus nicht notwendig den Trugschluss eines moralischen Exzeptionalismus (d. h. einer moralischen Sonderstellung des Menschen) bewirken müsse.
Warum Hunde keine beweglichen Pflanzen sind
Ebenso sollte die moralphilosophische Bedeutung der Vernunft nicht so missverstanden werden, dass man in ihr eine bloße Eigenschaft erkennt, die man hat oder nicht – etwa so, wie man braune, grüne oder blaue Augen hat: „Ein Wesen vernünftig zu nennen, heißt nicht bloß zu sagen, es habe ‚Vernunft’ als eine unter vielen Eigenschaften. Es sagt vielmehr etwas über seine Funktionsweise. Ein solches Wesen denkt darüber nach, was es glauben oder tun soll, und es orientiert sich dabei an rationalen Maßstäben, um sich in seinen Überzeugungen und Handlungen von ihnen leiten zu lassen.“[3]S. 115
Diese Unterscheidung ist außerordentlich wichtig. Wer nämlich irrtümlicherweise denkt, dass die Vernunft lediglich eine Eigenschaft und keine Funktionsweise ist, argumentiert dann vielleicht so, dass sie/er Eigenschaften von Pflanzen, Tieren und Menschen vergleicht und zu dem Schluss kommt: Die Eigenschaften eines Hundes sind Lebendigkeit, Empfindungsfähigkeit, Gefühlsbegabung, Intelligenz. Die Eigenschaften eines Menschen sind Lebendigkeit, Empfindungsfähigkeit, Gefühlsbegabung, Intelligenz, Vernunft. Korsgaard genügt ein einziger Satz, um diese moralische Bedeutung dieser Auflistung zu hinterfragen – diese Liste verführe nämlich zu der grundfalschen Annahme: „Ziehen Sie die Vernunft vom Menschen ab und Sie erhalten einen Hund.“ Gleichermaßen absurd, so Korsgaard, sei die Vorstellung, ein Hund habe alle Eigenschaften wie eine Pflanze plus die Fähigkeit zu handeln. Ziehe man diese von ihm ab, erhalte man demnach eine Pflanze.[4]S. 116
In den Neuen Ökologien lässt sich immer wieder beobachten, dass in eben dieser problematischen Weise argumentiert wird: Man konzentriert sich auf die basalste Eigenschaft, in der Regel also auf die Lebendigkeit, die Pflanzen und (menschliche wie nicht-menschliche) Tiere verbindet. Die normativen Unterschiede zwischen Pflanzen und Tieren werden damit ebenso relativiert wie die Bedeutung der (praktischen) Vernunft: Die Frage danach, warum gerade die Lebendigkeit (oder das schlichte Vorhandensein) von (Lebe-)Wesen sie bereits moralisch relevant macht, wird auf diese Weise systematisch ausgeklammert. Ein Hund ist dann tatsächlich bald wenig anderes als eine bewegliche Butterblume.
Moralische Gleich-Gültigkeit schafft Gleichgültigkeit
Es mag sein, dass das Ergebnis dieser Zugänge auf den ersten Blick vielleicht ganz erfreulich scheint: Gegenüber der Verengung auf den Menschen scheinen die Grenzen zwischen Pflanzen, Menschen und Tieren plötzlich vollständig aufgehoben. Was aber zunächst sympathisch scheint, erweist sich bald als moralisches Problem: Denn wer Pflanzen und Tiere moralisch gleichsetzt, produziert moralische Dilemmata wie am Fließband. Wenn erst einmal alle Wesen vereinheitlicht sind, spielt es dann scheinbar keine große Rolle mehr, ob man Pflanzen oder Tiere (und strenggenommen dann ja auch: Menschen) isst. Die gleiche Gültigkeit von Pflanzen und Tieren, die diese Ansätze behaupten, produziert also schlimmstenfalls genau dies: moralische Gleichgültigkeit.
Sicherlich wird man darüber streiten können, wie viel Strategie hinter derartigen Argumenten steckt und ob die „biozentrischen“ bzw. „ökozentrischen“ Ethiken womöglich ganz bewusst darauf setzen, Unterschiede zwischen Tieren und Pflanzen deswegen einzuebnen, um erstere weiter der menschlichen Verfügungsgewalt unterwerfen zu können – vielleicht nicht immer auf dem Papier, aber doch in der Praxis. Angesichts derartiger Probleme zeigt sich dann umso deutlicher, wie bedeutsam präzise und gründlich argumentierende Ethiken wie die von Korsgaard sind, die moralische Asymmetrien denken können. Die Asymmetrie, die die Vernunft begründet, muss sich also durchaus nicht notwendig nachteilig für Tiere auswirken, im Gegenteil. Was uns als menschliche Tiere auszeichnet, ist nicht, „dass wir die Lieblinge des Universums sind, deren Geschick unendlich viel wichtiger ist als das anderer Geschöpfe“, so Korsgaard:
„Das Gegenteil trifft zu. Was uns auszeichnet, ist die Empathie, die uns zu der Einsicht befähigt, dass andere Geschöpfe sich selbst in derselben Weise etwas bedeuten, in der wir uns etwas bedeuten. Was uns auszeichnet, ist die Vernunft, die uns zu dem Schluss kommen lässt: Jedes Tier muss als ein Zweck an sich betrachtet werden, auf dessen Schicksal es ankommt, und unbedingt ankommt, wenn es überhaupt auf etwas ankommen soll.“[5]S. 220
Simone Horstmann, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie an der Technischen Universität Dortmund und hat mehrere Bücher zum Verhältnis von Theologie und Tierrechtsanliegen publiziert, zuletzt „Religiöse Gewalt an Tieren“ (2021) und „Interspezies Lernen. Grundlinien interdisziplinärer Tierschutz- und Tierrechtsbildung“ (2021). Sie lebt in Unna gemeinsam mit drei Hunden, zwei Katzen, sechs Hühnern und einem Menschen.
Quellen