„Gebundene Bedeutung“: Christine Korsgaards Tierethik (Teil 1)

Im vergangenen Jahr (2021) hat der Band „Tiere wie wir“ von Christine Korsgaard für einiges Aufsehen gesorgt: Die US-amerikanische Moralphilosophin hat mit ihrem Band eine Tierethik erster Güte vorgelegt, die in ihrer einzigartigen Synthese aus argumentativer Komplexität und Klarheit Maßstäbe setzen dürfte – und die dabei ein eindeutiges Votum formuliert: Andere Tiere haben Menschen gegenüber einen unabweisbaren moralischen Anspruch; der bisherige Umgang mit Tieren sei eine „moralische Grausamkeit von ungeheuren Ausmaßen“. In einer Mini-Serie für den Tierrechtsblog stelle ich zentrale Argumentationswege Korsgaards vor, die auch für tierrechtsbezogene Debatten von Interesse sind: In diesem ersten Beitrag geht es um Korsgaards „Theorie der Gebundenheit von Bedeutung“.

Eine kantianische Tierethik?

Bereits mit dem Untertitel von Korsgaards Band[1]Christine M. Korsgaard: Tiere wie wir. Warum wir moralische Pflichten gegenüber Tieren haben, München: Beck 2021 [engl. Org. 2014]; alle in Klammern genannten Seitenzahlen im Text beziehen sich auf … Weiterlesen – „Warum wir moralische Pflichten gegenüber Tieren haben“ – wird eine erste wesentliche Voraussetzung deutlich: Korsgaard argumentiert als Kantianerin, ihre Überlegungen setzen also an der vielleicht profundesten Ethik der Moderne an. Eben diese Ethik des Philosophen Immanuel Kant, die oft auch unter den Begriff der Deontologie (von griech.: deon = das Gesollte) gefasst wird, stellt den Begriff der Pflicht ins Zentrum der ethischen Überlegungen. Das unterscheidet sie also zunächst von anderen (tier-)ethischen Ansätzen, die beispielsweise eher auf Kosten-Nutzen-Erwägungen abstellen (wie im Fall der meisten utilitaristischen Ethiken) oder die Ethik als einen Diskurs über Haltungen verstehen (wie im Fall der Tugendethiken).

Korsgaards akademisches Selbstverständnis als Kantianerin stellt ihr Denken also in eine Kontinuität zum gewichtigen kantianischen Denken und zu dessen überwältigendem Einfluss in der europäischen Geistesgeschichte. Der Rekurs auf Kant bringt aber auch ein herausforderndes Erbe mit sich, sobald dessen Arbeiten aus einer Tierrechtsperspektive betrachtet werden: Immerhin gilt Kants Philosophie nicht grundlos als Nadelöhr für jenen steilen Anthropozentrismus, der eine Sonderstellung des Menschen qua seiner Vernunft behauptet und andere Tiere damit zu bloßen Mitteln degradiert.

Mit Kant über Kant hinaus

Es sind eben diese tierfeindlichen Passagen in Kants Werk, die Korsgaard immer wieder anführt – nicht um ihn gewissermaßen als Kind seiner Zeit historisch zu entschuldigen, sondern gerade um dessen Tierfeindlichkeit und deren strategischen Ort innerhalb seiner Theorie offenzulegen. So zitiert Korsgaard aus Kants Schrift „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“:

„Das erste Mal, dass [der Mensch, gemeint ist wohl die biblische Figur des Adam, Anm. SH] zum Schafe sagte: den Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben, ihm ihn abzog und sich selbst anlegte, ward er eines Vorrechts inne, welches er […] über alle Tiere hatte; die er nun nicht mehr als seine Mitgenossen an der Schöpfung, sondern als seinem Willen überlassene Mittel und Werkzeuge zur Erreichung seiner beliebigen Zwecke ansah.“ (zit. nach Korsgaard, 133)

Korsgaards Kommentar zu Kants regelrechter Mythologisierung der menschlichen Gewalt an Tieren fällt gleichwohl überraschend aus. Sie belässt es nicht bei einer bloßen Schelte, sondern bemerkt in dieser gewaltlegitimierenden Passage Spuren einer anderen Wirklichkeit der Beziehung von Menschen und (anderen) Tieren. So schreibt Korsgaard: An der zitierten Passage sei besonders eindrücklich, dass jener Adam, den Kant kurz zur Sprache kommen lässt, sich mit seinen Worten über den Pelz ja direkt an das Schaf wendet, dass er also zum Schaf spricht – ganz so, „als sei in dem Augenblick, da wir [den Tieren] den Rücken kehrten, die Fähigkeit, mit ihnen zu kommunizieren, diese letzte Spur des Friedensreichs, noch lebendig gewesen.“ (135)

Auch deswegen will Korsgaard, die das speziesistische Korsett der kantischen Philosophie ausgesprochen klarsichtig dekonstruiert, dennoch mit Kant über Kant hinaus denken: Sie liest ihn gewissermaßen mit einer Hermeneutik, die die mitunter offenkundige Tierfeindlichkeit der kantischen Theorie mit deren eigenen Mitteln überwinden will. Um ihren Ansatz zu verstehen, ist also zunächst ein Exkurs in die Kantische Moralphilosophie notwendig.

Rückblick: Kants Moralphilosophie

Prägend für Kants Moralphilosophie ist die Art und Weise, wie Kant die Frag(e) der Moral („Was soll ich tun?“) und die Frage(n) der Erkenntnistheorie („Was kann ich wissen?“) aufeinander bezieht. Für Menschen, die sich für tierethische Anliegen interessieren, scheint dieser Hinweis zunächst vielleicht von geringer Bedeutung zu sein, weil wir oft dazu tendieren, beide Fragenkomplexe voneinander getrennt zu verhandeln und die „rein“ ethischen Fragen zu privilegieren. Die Unterscheidung, die heutige Publikationen zum Thema prägt, spiegelt dies ja deutlich wider: Wir trennen in aller Regel zwischen tierethischen und tierphilosophischen Fragen.

Kant (und letztlich auch Korsgaard) halten dem nun entgegen, dass eine kritische Reflexion unseres Erkenntnisvermögens auch für moralische Aussagen unabdingbar ist – in diesem Sinne sind Fragen der Moral und Fragen der Erkenntnistheorie also verknüpft. Kritisch zu sein heißt für Kant und für Korsgaard nun vor allem, die Grenzen von Erkenntnis- und Aussagemöglichkeiten zu erkennen. Wer in diesem Sinne kritisch denkt, wird Kant zufolge vor allem eins feststellen: Die menschliche Erkenntnis der Wirklichkeit hängt nicht allein von dieser Wirklichkeit ab, sondern richtet sich immer auch nach den Bedingungen der beobachtenden Person. Wenn wir die Welt erkennen, müssen wir mitreflektieren, dass wir im Erkenntnisprozess bestimmte Dinge an diese Erkenntnisse herantragen und dass wir die Welt im Erkennen mitstrukturieren. Unser Erkennen ist also kein passiver Prozess, der lediglich die Außenwelt abbildet, sondern bereits ein ordnender und insofern aktiver Vorgang. Daher ist es nach Kant (der zu Recht auch als erster Konstruktivist gilt) von wesentlicher Bedeutung, dass wir erkennen lernen, welche Kategorien und welche (Konstruktions-)Prinzipien wir mit unserem Denken in unser Erkennen hineinlegen.

Diese Einsicht Kants markiert philosophiegeschichtlich einen derart gewaltigen Paradigmenwechsel, dass man häufig von der „kopernikanischen Wende“ im Denken gesprochen hat. Kant konnte erstmals zeigen, dass bestimmte Strukturen unseres Erkennens gar nicht Teil der Außenwelt sind, sondern gerade umgekehrt in unserem Verstand, in unserer Innenwelt begründet sind. Nicht alles, was wir zu erkennen glauben, stammt also aus dieser „Außenwelt“. Das gilt etwa für den Begriff der Kausalität und damit auch für den – dann wiederum ethisch bedeutsamen – Begriff des Gesetzes. In aller Klarheit legt Kant dar, dass Kausalität und damit auch ein Naturgesetz etwas ist, das im strengen Sinne nicht empirisch erkannt werden kann. Wenn also Naturwissenschaftler:innen Naturgesetze erfassen, dann müssen sie dazu auf eine Verstandeskategorie zurückgreifen. Sie können empirisch zwar erkennen, dass ein fallengelassener Stein immer wieder auf den Boden fällt – dass sich hinter diesem Prozess allerdings ein Naturgesetz versteckt, ist mit den Mitteln der Empirie allein nicht fassbar und stellt vielmehr eine Deutung mittels einer Kategorie des Verstandes dar.

Die unbedingte Verpflichtung durch den Anderen

Genau hier liegt nun die oben angesprochene Verbindung zwischen erkenntnistheoretischen und moralischen Fragen: Kants Philosophie zeichnet sich dadurch aus, dass sie vielfach synthetisch funktioniert, also Verbindungen zwischen scheinbar unverbundenen Wirklichkeitsbereichen herstellt. Eine solche Synthese will Kant auch zwischen Erkenntnistheorie und Moral bilden, und dazu dient ihm der Begriff des Gesetzes. Seine Grundidee ist: Wirkliche Moral bindet uns genauso wie ein Naturgesetz. Das erklärt den Stellenwert, den der – für unsere heutigen Ohren so preußisch-hölzern daherkommende – Begriff der Pflicht bei Kant hat. Denn Pflicht ist eine Reaktion auf ein Gesetz, dem ich unmöglich widersprechen kann. Die Erfahrung, anderen Wesen gegenüber verpflichtet zu sein, empfinden wir tatsächlich oft als einen unbedingten Anspruch, der uns dann nahelegt: Ich kann in diesem Moment tatsächlich nicht anders handeln, als dem Anderen zu entsprechen. Man könnte also sagen: Im Angesicht des Anderen bindet mich dessen moralischer Anspruch genauso wie es die Gesetze der Schwerkraft tun – man kann ihnen in diesem Moment unmöglich nicht entsprechen. Beide Gesetzesformen, das moralische Gesetz und das Naturgesetz, eint nämlich der gemeinsame Ursprung in der menschlichen Vernunft: Beide begegnen uns als Notwendigkeiten.

Erkenntnistheoretische Differenzen und moralischer Egalitarismus

Ab diesem Punkt gehen Kant und Korsgaard nun allerdings getrennte Wege: Während Kant die menschliche Vernunft derart überhöht, dass sie zur Legitimation nahezu jedweder Gewalt an Tieren dient, hält Korsgaard an der soeben formulierten Einsicht etwas länger inne. Sie bemerkt, dass Kant eine durchaus richtige Erkenntnis formuliert hat, in den von ihm in Betracht gezogenen Konsequenzen aber weit über das Ziel hinausgeschossen ist. Korsgaard hält dabei durchaus am menschlichen Spezifikum der Vernunft fest und wendet sich vielleicht überraschend damit gegen die Annahme, dass die Tierfeindlichkeit der Tradition (allein) dadurch zu überwinden sei, dass wir umso entschlossener begründen, warum wir als Menschen auch Tiere sind. Gerade die Verpflichtung auf die eigene Vernunft müsse Menschen dazu bringen, andere Tiere als Zweck an sich zu achten, so Korsgaard: Die Vernunft ist die menschliche Art und Weise, ein Tier zu sein. Kant habe also durchaus recht mit dem Gedanken einer gewissen Asymmetrie, der zufolge „unsere moralischen Pflichten gegenüber Tieren auf etwas zurückgehen, das mit unserem Selbstverhältnis zu tun hat“ (12). Dass dieser Rückgriff auf die menschliche Vernunft gleichwohl keine moralische Höherwertigkeit des Menschen mit sich bringt, ist für Korsgaards Argumentation entscheidend.

Eine „Theorie der Gebundenheit von Bedeutung“ als Ausgangspunkt der Tierethik

Deswegen formuliert Korsgaard ebenfalls eine eigene Synthese aus erkenntnistheoretischen und ethischen Fragen: Sie spricht von einer „Theorie der Gebundenheit von Bedeutung“. In gewisser Weise kann der Begriff der Bedeutung auch als geheimer Notenschlüssel für Korsgaards Ethik verstanden werden. Sie zieht diesen Begriff zunächst heran, um eine Intuition zu entkräften, die viele Menschen bis heute teilen dürfen: Die Annahme nämlich, dass Tiere zwar eine gewisse moralische Bedeutung haben, dass diese Bedeutung aber stets geringer sei als die von Menschen: „Viele Leute denken, Tiere seien ganz einfach nicht so wichtig wie Menschen, und darum sei auch weniger wichtig, was mit ihnen geschieht.“ (21) Das Problem dieser Aussage, so Korsgaard, sei nun weniger, dass sie einfach nur falsch ist, sondern dass sie keinen Sinn ergibt. Dass diese Intuition tatsächlich keine sinnvolle Aussage ist, zeigt sie anhand des Begriffs der Bedeutung: Moralische Werte und damit auch moralische Bedeutungen sind immer gebunden, so Korsgaard: Nichts kann wichtig sein, ohne für jemanden wichtig zu sein. Wenn wir also über moralische Bedeutungen und Wertigkeiten sprechen, dann muss klar sein, dass sich Bedeutung nicht von den Wesen abkoppeln lässt, die sie erfahren. Es sei daher unmöglich, einen erkenntnistheoretischen Standpunkt einzunehmen, von dem aus wir sinnvoll fragen könnten, welches Geschöpf oder welche Art von Geschöpfen im absoluten Sinne wichtiger ist: „Dinge haben eine Bedeutung für Geschöpfe, aber die Geschöpfe selbst stehen in keiner absoluten Rangordnung ihrer Bedeutung.“ (25)

Damit hält Korsgaard in frappierender Einfachheit eine wohl tatsächlich unumstößliche Erkenntnis fest: Bedeutungen können nicht gegeneinander aufgewogen werden. Es gibt kein subjektiv erfahrenes Leben, dem ein „Mehr“ an Bedeutung zukommt, und auch kein Leben, das „weniger“ Bedeutung hat. Moralische Bedeutung ist immer an Subjekte gebunden und daher inkommensurabel, also nicht gegen andere Bedeutung verrechenbar. Selbst dort, wo Menschen in manchen Situationen vielleicht dazu neigen würden, Menschen gegenüber anderen Tieren zu privilegieren, könne aus dieser faktischen Entscheidung keine verallgemeinerbare Aussage über die moralische Wertigkeit gefolgert werden: „Dass wir uns selbst mehr bedeuten, ist ein Faktum, das, wenn es denn eines ist, den anderen Tieren nicht das Mindeste bedeuten muss.“ (31)

 

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Simone Horstmann, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie an der Technischen Universität Dortmund und hat mehrere Bücher zum Verhältnis von Theologie und Tierrechtsanliegen publiziert, zuletzt „Religiöse Gewalt an Tieren“ (2021) und „Interspezies Lernen. Grundlinien interdisziplinärer Tierschutz- und Tierrechtsbildung“ (2021). Sie lebt in Unna gemeinsam mit drei Hunden, zwei Katzen, sechs Hühnern und einem Menschen.

Quellen[+]