Spuren von Milch & Co.: Ist das noch vegan?
Ein Restaurant wird in einer lokalen Facebook-Gruppe kritisiert; von einem Besuch wird abgeraten. Auf der Karte habe man bei den als vegan deklarierten Speisen auch Allergenhinweise entdeckt: Die Speisen könnten hiernach Spuren von Eiern und Meeres“früchten“ enthalten. Wie könne man das nur als vegan bezeichnen? Hier würden vegane Verbraucher:innen klar getäuscht!
Die immanente Forderung, dass Essen garantiert frei von Spuren tierischer Inhaltsstoffe sein müsse, egal ob allergen oder nicht, sollte unbedingt das Bestreben einer jeden Person sein. Das gilt vor allem, wenn sie aus ethischen Gründen einen veganen Lebensstil führt.
Tatsächlich aber dürfen Lebensmittel, in denen Spuren tierischer Inhaltsstoffe möglicherweise vorhanden sind, rechtlich als vegan bezeichnet werden.
Aber warum gilt das noch als vegan?
„Vegan“ zu sein beschreibt eine Lebensweise, bei der u. a. der Konsum tierischer Produkte abgelehnt wird. Sie kann die verschiedensten Lebens- bzw. Konsumbereiche betreffen, wie etwa Ernährung, Bekleidung, Mobiliar, Unterhaltung, Sport oder Architektur.[1]– um einen nur winzigen Ausschnitt zu benennen.
Auch die Beweggründe für einen solchen Lebensstil sind unterschiedlich gelagert. Der wichtigste Motivator und der begriffliche Ursprung der veganen Lebensweise sind aber ethisch begründet: Veganer:innen wollen durch ihre Lebensweise „[…] alle Formen der Ausbeutung und Grausamkeit gegenüber Tieren für Lebensmittel, Kleidung oder andere Zwecke so weit wie möglich und praktikabel ausschließen […].“[2]The Vegan Society, Definition of veganism? https://www.vegansociety.com/go-vegan/definition-veganism. Da Produkte, die tierische Inhaltsstoffe enthalten, nahezu immer mit Ausbeutung und Grausamkeit gegenüber Tieren verbunden sind, gelten sie als nicht vegan.
Insoweit erscheint es widersprüchlich, ein Produkt als vegan zu bezeichnen, dessen Zutatenliste zwar frei von Stoffen tierischen Ursprungs ist – am Ende jedoch einen Hinweis enthält, dass Spuren von einem Allergen XY enthalten sein könnten, das tierischer Herkunft ist.
Vegan nach Norm
Die hier maßgebliche ISO-Norm 23662:2021 erkennt in der Spuren-Frage jedoch kein grundsätzliches Hindernis, ein Lebensmittel als vegan zu deklarieren. Dieses Regelwerk, das den Titel „Definitionen und technische Kriterien für Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die für Vegetarier oder Veganer geeignet sind, sowie für die Kennzeichnung und Angaben“ trägt, wurde 2021 veröffentlicht.[3]Beuger, Jäger, Müller–Amenitsch, Definitionen, technische Kriterien und Kennzeichnung für vegetarische und vegane Lebensmittel, Kommentar zur ISO-Norm 23662:2021, 1. Auflage, 2022, S. 15. Seither setzt die ISO 23662 den Industriestandard für die Bezeichnung von Lebensmitteln als vegan (und vegetarisch).
Es handelt sich bei dieser Norm zwar um kein Gesetz. Als Industriestandard kann sie Gerichten jedoch als Auslegungshilfe dienen, wenn es bei einem Rechtsstreit darum gehen sollte, ob ein Lebensmittel als vegan gekennzeichnet werden darf.[4]Beuger, Jäger, Müller–Amenitsch, Kommentar zur ISO-Norm 23662:2021, S. 41.
Vegan trotz Kontamination?
Vegan sind Lebensmittel nach Abschnitt 4.5 der ISO-Norm, wenn sie keine Produkte tierischen Ursprungs enthalten und solche Produkte auch nicht während eines Produktions- oder Verarbeitungsschrittes eingesetzt wurden. So wäre es z. B. nicht vegan, Gelatine zum Klären von Säften einzusetzen – auch wenn diese wieder herausgefiltert und im Endprodukt nicht mehr vorhanden wäre. Maßgeblich ist, ob der Herstellungsprozess es vorsieht, dass tierische Inhaltsstoffe eingesetzt werden oder nicht.
Klargestellt wird dies aber noch mal in Abschnitt 5 der Norm. Unter „Labeling and Claims“ sagt sie, dass ein Allergenhinweis auf eine (mögliche) Kreuzkontamination mit nicht-veganen Stoffen kein Hindernis ist, die Bezeichnung „vegan“ zu verwenden.[5]Abschnitt 5 Absatz 3 Satz 2 der ISO 23662:2001.
Weiter heißt es im gleichen Abschnitt[6]Abschnitt 5 Absatz 3 Satz 1 der ISO 23662:2001., dass die unabsichtliche Anwesenheit von u. a. nicht-veganen Substanzen kein Hindernis darstellen sollte, ein Produkt als vegan zu kennzeichnen. Hier folgt jedoch ein Aber: Diese Berechtigung besteht nur unter der Bedingung, dass angemessene Maßnahmen getroffen wurden, die mit der „guten Herstellungspraxis“ (GHP) konform gehen.
Angemessen organisiert
Was man unter einer guten Herstellungspraxis und angemessenen Maßnahmen bei der Produktion veganer Lebensmittel zu verstehen hat, gibt die ISO 23662 jedoch nicht direkt vor.
Man wird jedoch aus anderen Standards ableiten können:[7]Wie etwa die ISO 9001:2015, die ISO-Norm für allgemeines Qualitätsmanagement – so jedenfalls vorgeschlagen in Beuger, Jäger, Müller–Amenitsch, Kommentar zur ISO-Norm 23662:2021, S. 66. Je größer das Kontaminationsrisiko für einen Betrieb ist, desto mehr kann von ihm erwartet werden, dass er im Rahmen des Zumutbaren umfassende Maßnahmen trifft, um dieses Risiko zu mindern.[8]Ebd.
Grundsätzlich sollten daher unterschiedliche Arbeitsmittel verwendet werden. Wenn dies nicht möglich ist, ist es geboten, durch „Reihenfolgenbildung“ bei ihrem Einsatz (erst vegan, dann vegetarisch, dann nicht-vegetarisch) und gründliche Reinigung einer Kreuzkontamination vorzubeugen.[9]Beuger, Jäger, Müller–Amenitsch, Kommentar zur ISO-Norm 23662:2021, S. 75.
So dürfte es für Betriebe beim Einsatz von industriellen Fabrikmaschinen für die Herstellung veganer Alternativprodukte häufig notwendig sein, auf die Geräte zurückzugreifen, die auch für nicht-vegane Produkte genutzt werden. Denn die Beschaffung dieser Gerätschaften kann mit einem erheblichen Beschaffungs- sowie Kostenaufwand verbunden sein und ist eventuell auch nicht mit den Platzkapazitäten vereinbar.[10]vgl. zum Problem der Infrastruktur bei der Produktion veganer Alternativprodukte: Weymayr, Vergesst Fleisch! Wie wir klug die Welt ernähren, S. 11 ff. Hier wird man regelmäßig nicht mehr als die Einhaltung der o. g. Reihenfolge sowie eine gründliche Reinigung der Anlagen erwarten dürfen, die einer Kreuzkontamination vorbeugt, aber nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließt.
Zumutbar scheint es hingegen z. B. für Fast-Food-Ketten, deren Küchen üblicherweise über mehr als eine Fritteuse verfügen, separate Fritteusen in den Küchen einzurichten, in denen ausschließlich vegane Lebensmittel gebacken werden oder für Restaurants, unterschiedliche Pfannen zu verwenden.
Welche Maßnahmen die Betriebe aber nun treffen und ob diese den GHP entsprechen, werden Verbraucher:innen im Alltag kaum erkennen und bewerten können.
Angemessen pragmatisch
Aber – Hand aufs Herz – ebenso wenig lässt sich aus dieser Perspektive zuverlässig einschätzen, wie oft und wie gründlich sich Mitarbeitende in der Produktion oder Köch:innen die Hände waschen.
Für die eigene Alltagstauglichkeit ist es hier legitim, eine pragmatische Haltung einzunehmen.
Man ist wohl darauf angewiesen, erst einmal von der Einhaltung der GHP auszugehen. Die Großzügigkeit eines Vertrauensvorschusses endet natürlich dort, wo sich Anhaltspunkte für das Gegenteil erkennen lassen – und soweit dies mit denjenigen Zielen kollidiert, die eine:n persönlich zum Veganismus motivieren.
Empfindet man etwa Ekel, weil die (eigentlich) veganen Pommes im selben Öl frittiert werden wie die Stücke panierter Schweineleichen? Oder kann man darüber hinwegsehen, weil es für das immense Leid des Schweins keinen Unterschied mehr macht, ob es davor oder danach im selben Fett lag?
Angemessene Forderungen
Es ist nicht leicht, das rechte Maß zwischen Idealismus auf der einen Seite und Pragmatismus auf der anderen zu finden.
Idealismus in Form von Kritik an und Misstrauen gegenüber der Lebensmittelindustrie ist ein wichtiger Treiber für die Tierrechtsbewegung. Das Misstrauen hält wachsam und erlaubt es, Missstände zu erkennen, Kritik an ihnen zu üben sowie berechtigte Forderungen zu stellen. Aber man kommt rasch an die persönlichen Grenzen, wenn man sich zulasten des Blicks für das große Ganze in mehr oder minder relevante Details verrennt. Das ist eine ungeeignete Strategie angesichts des Tierrechtsmarathons.
Denn Tierausbeutung ist nicht nur ein individuelles, sondern auch ein systemisches Problem. Sie ist (noch) viel zu tief in der Wirtschaft sowie den Köpfen der Menschen verankert und in manchen Fällen nicht auf Anhieb erkennbar.
Selbst die Produktion pflanzlicher Lebensmittel ist oft mit Tierleid verknüpft. Beispielsweise wird unser Gemüse nach wie vor mit den Überresten oder Exkrementen von Kühen und Schweinen gedüngt – in Form von Schlachtabfällen und Gülle[11]vgl. Beuger, Jäger, Müller–Amenitsch, Kommentar zur ISO-Norm 23662:2021, S. 6; Schmitz, Anders satt – Wie der Ausstieg aus der Tierindustrie gelingt, S. 128. – und Insekten durch den Einsatz von Insektiziden getötet: Gute Argumente für eine bio-vegane Landwirtschaft, die durchaus möglich ist. Für einige Lebensmittel werden weiterhin Tierversuche gemacht[12]Dabei darf ein Lebensmittel nach Abschnitt 4.5 Abs. 6 der ISO 23362 auch als vegan bezeichnet werden, wenn diese Tierversuche gesetzlich vorgeschrieben sind; was bei Novel-Foods der Fall ist. und immer noch werden Tiere als Erntesklaven missbraucht, wie etwa Affen beim Ernten von Kokosnüssen.
Es bleibt nur, die eigenen Kräfte gut einzuteilen, so tierleidfreie Entscheidungen wie möglich zu treffen und dabei konsequent weiter zu fordern: Eine Welt, die frei von Tiernutzung und ihren Spuren ist.
ist seit April 2020 Justiziarin im PETA-Rechtsteam in Berlin. Sie befasst sich vorwiegend mit Fragen und Fällen des Allgemeinen Tierschutzrechts, des Tierschutzstrafrechts und des Medienrechts.
Quellen