Die Paternoster-Frage: Zum schwierigen Verhältnis von Religionen und Tierrechten

Tierrechtler:innen sind vielfach sensibel für die technizistische Sprache, mit der das Leiden und Sterben von (anderen) Tieren insbesondere seitens der Tierindustrie beschönigt und normalisiert werden soll. Noch verhältnismäßig selten wird aber darüber diskutiert, wie sehr auch religiöse Vorstellungen diese Sprache und erst recht die Wirklichkeit dieser Praxis prägen. In vielen Schlachthöfen etwa werden Schweine vor der Tötung qualvoll mit CO2 betäubt. Diese Betäubung findet in einem Aufzugssystem statt, das „Paternoster“ genannt wird: Das zentralste Gebet des Christentums, das „Vaterunser“, steht hier als Namenspate für ein System, das unermessliche Qual und unfassbares Leid verursacht. Ist das lediglich ein Zufall, also eine vollkommen kontingente Verbindung von Religion und Tierleid?

Wenn ich – als Theologin – in diesem Beitrag das schwierige Verhältnis der Religionen zur Tierrechtsfrage diskutiere, dann soll dieser konkrete Begriff im Fokus stehen: An der Paternoster-Frage lässt sich exemplarisch ablesen, wie das Verhältnis von Religion[1]Wenn hier und im Folgenden von „Religion“ bzw. von „Religionen“ die Rede ist, dann sind vor allem – sofern nicht anders vermerkt – die sogenannte monotheistischen Religionen, also … Weiterlesen und Tierrechten aus einer theologischen Perspektive heraus verstanden werden kann. Dazu möchte ich zwei Haltungen problematisieren, die dieses Verhältnis jeweils unterschiedlich verstehen und daher auch unterschiedlich auf die Paternoster-Frage antworten.

Religionsapologie als theologische Grundhaltung?

Die erste Haltung wird die Paternoster-Frage mit dem schlichten Hinweis beantworten, dass beide Phänomene nichts miteinander zu tun haben: Die Tatsache, dass Umlaufaufzüge nun einmal mit einem christlichen Begriff belegt werden, habe mit der Gewalt an Tieren nichts zu tun, schließlich tragen auch andere Aufzüge, etwa in alten Gebäuden, diesen Namen.

Es sei deswegen auch übertrieben, die Gewalt an Tieren – etwa in den Schlachthöfen – auf einen religiösen Ursprung zurückzuführen; die Religionen müssten daher gegen derartige Kritik in Schutz genommen werden. Eine solche Haltung möchte ich im Folgenden als „apologetisch“ bezeichnen: Das Verhältnis von Religionen und Tierrechten wird dabei von theologischer Seite allzu oft so moderiert, dass die jeweilige Religion gegenüber den säkularen Anfragen verteidigt, erklärt oder gerechtfertigt wird – man argumentiert dann zwar in dem Bewusstsein, dass sich die offiziellen normativen Vorstellungen und Praktiken der (institutionell verfassten) Religionen sehr stark von denen der Tierrechtsbewegung unterscheiden, versucht aber zugleich, diese Unterschiede zu relativieren und die Tierfreundlichkeit der jeweiligen religiösen Praxis, der religiösen Texte und dergleichen zu belegen.

Dieser Ansatz ist einerseits sehr nachvollziehbar: Die Person, die so argumentiert, zeigt damit, dass sie sich um eine Aussöhnung von Religion und Tierrechten bemüht und eine produktive Verhältnisbestimmung vornimmt, die die Schnittmengen beider Bereiche betont.

Bruchstellen zwischen Tierrechten und Religionen anerkennen

Andererseits stellt sich mit einer solchen apologetischen Haltung aber auch sehr schnell die Frage, ob die unterstellten Schnittmengen zwischen den Religions- und Tierrechtsdiskursen nicht eher frommer Wunsch als Realität sind: Gibt es denn tatsächlich jene oft unterstellte Kontinuität zwischen den modernen Tierrechtsforderungen und den (zumeist) vormodernen Tierschutznormen, die die Religionen entwickelt haben – sind die vielfach naturrechtlichen Vorstellungen, die in den religiösen Traditionen grundgelegt sind, also tatsächlich die Basis für das positivistische Rechtsverständnis der Moderne?

Und übersieht dieses Argument nicht auch, wie schwer sich die Religionen oftmals schon mit der bloßen Anerkennung fundamentaler Menschenrechte getan haben und immer noch tun, von Tierrechten ganz zu schweigen?

Man denke nur etwa an die Tatsache, dass sich das römisch-katholische Lehramt bis heute nicht dazu durchringen konnte, die Menschenrechtscharta der UNO anzuerkennen.

Ähnliches gilt auch für die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“, die als islamisches Gegenstück zur Menschenrechtscharta dargestellt wird, in wesentlichen Punkten allerdings massiv von der Vorstellung unantastbarer Menschenrechte abweicht.

Liegt die Lösung in einer anderen Interpretation religiöser Traditionen?

Und wie weit trägt das ebenfalls apologetische Argument, dass religiöse Texte lediglich anders interpretiert werden müssten, um eine produktive Verbindung von Religion(en) und Tierrechten aufzutun? Mit Blick auf die jüdisch-christliche Tradition lässt sich zumindest vielfach beobachten, dass die theologischen Reaktionen etwa auf den sogenannten „Herrschaftsauftrag“ (Gen 1,28) oftmals dazu tendieren, das Problem ganz einfach „wegzuinterpretieren“: Es wird dann betont, dass „Herrschaft“ so viel wie „Verantwortung“ oder „Fürsorge“ meine – so verstanden, sei „Herrschaft“ dann vermeintlich kein Problem mehr.

Diese Art der Argumentation ist aus mehreren Gründen hochgradig problematisch: Sie verschiebt das Problem auf die Ebene der Textauslegung – damit wird zugleich unterstellt, dass lediglich die (nachträgliche) Auslegung, nicht aber der (ursprüngliche) Text selbst das Problem bildet.

Diese Strategie immunisiert damit, ob gewollt oder ungewollt, Teile der religiösen Tradition gegen kritische Anfragen und hält das Problem damit klein, indem sie es vom Kern der Religion hin zur Peripherie – vom Text zur Auslegung also – verlegt. Sie ist auch deswegen problematisch, weil sie auf diesem Weg mitunter Äquivokationen, also extreme begriffliche Spannungen und Mehrdeutigkeiten stiftet: Wenn „Herrschaft“ mit einem Mal „Fürsorge“ bedeuten soll, dann ist der Weg nicht mehr weit, um auch eine Tiertötung als einen Akt des „Respekts“ oder des „Tierschutzes“ zu deklarieren.

Nicht zuletzt wird man auch feststellen müssen, dass das Interpretationsargument häufig Schwierigkeiten hat, die Wirkungsgeschichte der jeweils abgelehnten Interpretationen einzuordnen: Selbst wenn man also annehmen mag, dass der „Herrschaftsauftrag“ anders zu verstehen sei, wird man doch anerkennen müssen, dass sich zumindest weite Teile der religiösen Tradition bemerkenswert einig darin waren, die besagte „Herrschaft“ über die (anderen) Tiere eben nicht als „Fürsorge“, sondern als gnadenlose Dominanz, Ausbeutung und Despotismus zu deuten, zu predigen und zu praktizieren. Genügt es angesichts dieser Schuldgeschichte, lediglich darauf zu verweisen, dass das religiöse Erbe schlichtweg falsch interpretiert worden sei?

Religionskritik als theologische Grundhaltung

Einer solchen, tendenziell apologetischen Haltung steht die Alternative gegenüber, gerade nicht die Schnittmengen, sondern die Unterschiede und die Bruchstellen zwischen beiden Feldern zu betonen.In der Regel wird diese zweite, nicht-apologetische Argumentationshaltung allerdings eher mit einem rein säkularen Standpunkt assoziiert – und von theologischer Seite dann oft als Angriff oder als unzumutbare Kritik von außen verstanden.

Ich möchte hingegen dafür plädieren, dass auch ein theologischer Standpunkt davon profitieren kann, eine nicht-apologetische Haltung einzunehmen, sich also nicht vorschnell auf die vermeintlich produktiven Schnittmengen von Religion und Tierrechtsdiskursen zu beziehen, sondern vielmehr die Probleme zu benennen und aufzuarbeiten, die die eigene Tradition gestiftet hat.

Wer das für unmöglich hält, übersieht, dass es in allen Religionen Traditionen gab und gibt, die die Aufgabe der Theologie in einer binnenreligiös zu leistenden Religionskritik verortet haben. Und trotzdem: Diese Traditionen bilden nicht den Mainstream der Religionen, eignen sich aber gerade deswegen, um diesen Mainstream mit seiner eigenen Gewalthaltigkeit zu konfrontieren. Eine nicht-apologetische Theologie hätte ihre eigene Tradition also grundlegend kritisch zu betrachten und systematisch danach zu fragen, wie und wo ihre eigene Tradition zur Legitimation von Gewalt an (nicht-menschlichen) Tieren herangezogen wurde und wird; sie hätte jene religiösen Muster aufzudecken, mit denen innerhalb und außerhalb der jeweiligen Religion Gewalt und eine speziesistische Grundhaltung zur Norm werden konnten.[2]Vgl. Simone Horstmann (Hg.): Religiöse Gewalt an Tieren. Interdisziplinäre Diagnosen zum Verhältnis von Religion, Speziesismus und Gewalt (= Human-Animal Studies 25), Bielefeld: transcript 2021.

Die Strategie einer solchen nicht-apologetischen Theologie besteht also darin, die Gewalt in den jeweiligen Texten und Traditionen möglichst klar zu benennen, sie nicht kleinzureden, zu relativieren oder wegzuerklären, sondern sie sichtbar zu halten als Teil des eigenen Erbes, das nicht schöngeredet, sondern das theologisch ausgehalten und erinnert werden muss, damit es sich nicht wiederholen kann.

Die Aufgabe: Theologische Anerkennung religiöser Gewalt an Tieren

Deswegen stellt sich auch die Antwort auf die Paternoster-Frage für eine nicht-apologetische Theologie anders dar. Die Verbindung zwischen der Gewalt an Tieren und der Religion, die der Begriff des „Paternoster“ stiftet, wird von ihr nicht reflexhaft abgewehrt, sondern bleibt als Irritation, als kritische Nachfrage an das eigene theologische Selbstverständnis im Raum stehen.

Von dieser Irritation aus können Theologien befähigt werden, ihr eigenes gewalthaltiges Erbe aufzuarbeiten und sich davon zu emanzipieren: Das betrifft religiöse Menschenbilder, die bis heute in schroffer Abgrenzung zu allem „Animalischen“ konzipiert werden, Jenseitsvorstellungen, die oftmals rein anthropozentrisch gedacht sind, Vorstellungen von Reinheit, Ritus, Opfer und Kult, die bis in die Herzkammern der Religionen hineinreichen und zugleich immer schon auf Kosten (anderer) Tiere erprobt und praktiziert wurden.

Die Bereitschaft der Theologien und Religionen zu einer umfassenden Selbstkritik, die nicht nur wie im Fall des Interpretations-Arguments die Oberflächenstrukturen, sondern gerade die Grundlagen der Religion betrifft, sollte die Voraussetzung für ein Gespräch zwischen den Theologien und der Tierrechtsbewegung sein.

Das ist keine unangemessene Zumutung, sondern zollt der Tatsache Tribut, dass Religionen – nicht immer, aber immer noch viel zu oft – Strukturen der Unterdrückung und der Gewalt legitimieren; an dieser Erkenntnis führt kein theologischer Weg vorbei. Gerade die Analyse der Intersektionalität dieser Gewalt, das heißt der strukturellen Überschneidung von Gewalt und Hass gegenüber Tieren mit beispielsweise der gegenüber Frauen oder „Ungläubigen“, ist dabei ein wichtiges Mittel zur Selbstaufklärung der Religionen. Die Vorbehalte, die von säkularer Seite an die Theologien und Religionen herangetragen werden, sind also durchaus nicht immer unbegründet. Wenn Theologien schlicht über diese Kritik hinweggehen und sie als bloßen Affront werten, konterkarieren sie damit nicht nur ihren Anspruch darauf, als wissenschaftliche und akademische Disziplin aufzutreten, sie nehmen sich damit zugleich auch die Chance, zu lernen und sich zu verändern.

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Simone Horstmann, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie an der Technischen Universität Dortmund und hat mehrere Bücher zum Verhältnis von Theologie und Tierrechtsanliegen publiziert, zuletzt „Religiöse Gewalt an Tieren“ (2021) und „Interspezies Lernen. Grundlinien interdisziplinärer Tierschutz- und Tierrechtsbildung“ (2021). Sie lebt in Unna gemeinsam mit drei Hunden, zwei Katzen, sechs Hühnern und einem Menschen.

Quellen[+]