Textbesprechung zu „Anthropozentrismus – zur Problematisierung des Mensch-Tier-Dualismus“ von Dr. Arianna Ferrari

Über 100 Jahre ist es her, dass Sigmund Freud die „drei Kränkungen der Menschheit“ diagnostiziert hat: Der Heimatplanet des Menschen ist nicht Mittelpunkt des Universums, Homo sapiens entstammt der Tierfamilie und wird schließlich in wesentlichem Maße von seinem Unterbewusstsein dominiert.[1]Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, Wien 1917.

Dennoch ist auch heute noch die anthropozentrische[2]griech. ánthropos – Mensch, kéntron – Mittelpunkt. Ethik und Weltwahrnehmung omnipräsent, nach der der Mensch und seine gesamten Lebensäußerungen Mittelpunkt und Zweck der gesamten Welt(sicht) sind.

Dr. Arianna Ferrari[3]Dr. Arianna Ferrari ist promovierte Philosophin und Autorin und Herausgeberin zahlreicher Schriften im Rahmen der Human-Animal Studies. Sie beschäftigte sich insbesondere mit ethischen Fragen im … Weiterlesen befasst sich in ihrem Text[4]Erschienen in Band 412 der Bundeszentrale für politische Bildung „Haben Tiere Rechte“, herausgegeben von Elke Diehl und Jens Tuider, Bonn 2019, der viele weitere interessante Artikel enthält … Weiterlesen über Anthropozentrismus mit der binären Unterscheidung zwischen Mensch und Tier als fundamentalem Grund für die völlig misslungene Mensch-Tier-Beziehung, die über Jahrtausende hinweg quer über den Globus zu Versklavung, Gefangenschaft, Ausbeutung und Tötung von Tieren durch den Menschen zu jedweden Zwecken geführt hat.

Sie spannt dabei einen historischen Bogen von den Anfängen der Domestikation von Tieren durch den Menschen als dem Zeitpunkt, zu dem die dichotome Einteilung in Mensch vs. Tier entstand, bis hin zu den Inhalten der aktuellen tierethischen Diskussion und skizziert schließlich Lösungsansätze zur Überwindung dieser verhängnisvollen Struktur.

Binärverhältnis/Anthropozentrismus: Die willkürlich geschaffene kategoriale Unterscheidung zwischen Mensch und Tier (und Kritik daran) in der Historie

Gedanklicher Ausgangspunkt ist für Ferrari die Erkenntnis, dass die Suche nach der Identität des Menschen in der Geschichte der abendländischen Philosophie von der Frage geprägt wurde, wie sich der Mensch von anderen nichtmenschlichen Tieren[5]Der Begriff „nichtmenschliche Tiere“ selbst ist nicht frei von einem gewissen Anthropozentrismus, soweit er wiederum den Menschen zum Maßstab erhebt, an dem andere Tiere in Abgrenzung zu ihm in … Weiterlesen unterscheidet.[6]Arianna Ferrari, Anthropozentrismus – zur Problematisierung des Mensch-Tier-Dualismus, siehe Fn. 1.

Diese Suche nach einem bestimmten kognitiven, sozialen, moralischen oder religiösen Merkmal („Anthropologische Differenz“) sollte dann den kategorialen Unterschied zwischen Mensch und Tier festlegen. Es handele sich um die Entstehung der anthropozentrischen Weltwahrnehmung – der Auffassung, der Mensch sei Maßstab der natürlichen Ordnung, der Mittelpunkt der Welt –, woraus wiederum eine Vertretbarkeit der Nutzung von Tieren für menschliche Zwecke abgeleitet wird.

Tatsächlich scheinen dichotome Weltbilder ein Bedürfnis zu befriedigen, das in vielen Menschen besteht, man denke an solche Einteilungen wie Gut/Böse, Ost/West, Mann/Frau, um Orientierung zu bieten und die eigene Verortung in einer vermeintlich übersichtlichen Struktur zu Zwecken der Identifikation sicherzustellen.

Die Frage nach der Entstehung des Mensch-Tier-Dualismus sei, so Ferrari, zeitlich im Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht und in Europa ideengeschichtlich in der griechischen Philosophie Aristoteles‘ begründet, der nur dem Menschen eine rationale Seele zusprach. Das Christentum begründete die Sonderstellung des Menschen mit der angeblichen Gottesebenbildlichkeit des Menschen. In der Renaissance kamen Merkmale wie die Fähigkeit zur kulturellen Gestaltung oder auch zur Kontemplation der Grandiosität der Schöpfung hinzu. Später, mit der Geburt der modernen Wissenschaften und der Aufklärung, sei die experimentelle Wissenschaft als die Verwirklichung der einzigartigen Natur des Menschen angesehen worden. In diese Zeit fiel die auf René Descartes beruhende Anschauung, Tiere seien bloße Automaten, natürliche Maschinen, die keine Schmerzen empfinden könnten und entsprechend u. a. zur Verwendung in Tierexperimenten herangezogen werden könnten. Immanuel Kant gestand nur dem Menschen Vernunftbegabung zu – Tierquälerei solle aber verboten sein, weil sie zur Verrohung der Menschheit führe –, eine klassisch anthropozentrische Position. In der Zeit des deutschen Idealismus leitete G.W.F. Hegel dagegen die Sonderstellung des Menschen daraus ab, dass nur dieser ein Verhältnis zu sich selbst einzunehmen in der Lage sei. Auch S. Kierkegaard beschrieb (allein) den Menschen als Synthese von Leib und Seele, der die beiden Elemente in Verbindung zu setzen habe. Heidegger schließlich behauptete, Tieren sei der Zugang zum Dasein versperrt, sie seien Menschen minus X.

Die Darstellung Ferraris macht deutlich, mit welcher Begründungsakrobatik im Kontext der jeweiligen kulturellen und naturwissenschaftlichen Erkenntnislage der Mensch-Tier-Dualismus permanent herbeiargumentiert und die Begründungen willkürlich ausgewechselt wurden, um die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten, in der die Tiere stets den Kürzeren ziehen.

Gegenpositionen zum Anthropozentrismus

Doch es habe, so beschreibt es Ferrari, in der Geschichte auch immer wieder Gegenentwürfe zu den oben dargestellten anthropozentrischen Begründungen gegeben. Diese Stimmen betonten entweder die Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier oder sie nahmen die Andersartigkeit zum Anlass, auf die Schutzbedürftigkeit der Alterität hinzuweisen – ganz anders als die herrschenden Ausbeutungs-Rechtfertigungstheorien. Schon in der Antike habe es Denker gegeben, die Tiervernunft zu beweisen versuchten oder sie zogen das Argument der Seelenwanderung heran, um eine ethische Berücksichtigung von Tieren zu begründen sowie Tieropferkult und Fleischkonsum zu verhindern. Sogar ein Perspektivismus sei damals bereits vertreten worden, laut dem die Erkenntnisse von Mensch und Tier relativ zu ihrer jeweils eigenen Perspektive sind und es keinen neutralen Beobachtungspunkt gebe – eine für die Welt allein maßgebliche Perspektive fehle damit.

In der Neuzeit war es Ferrari zufolge vor allem Michel de Montaigne, der die anthropologische Differenz ablehnte und die Verständigung zwischen Tieren „Sprache“ nannte. Auch Montaigne vertrat den Perspektivismus und erweiterte ihn durch die Erkenntnis, dass Tiere, die über andere oder weiter entwickelte Sinne verfügen, auch eine angemessenere Perspektive auf die Welt haben können.

Als 1871 Charles Darwins epochale Theorien über die Abstammung des Menschen erschienen, war es vorbei mit der Einzigartigkeit des Menschen, stattdessen war der Beweis geführt, dass er das (zu betonen ist: vorläufige) Ergebnis eines blinden Evolutionsprozesses ist und von anderen Tieren abstammt. Den geistigen Unterschied zwischen „höheren Tieren“ und dem Menschen stufte Darwin als bloß graduell, nicht als wesensmäßig ein. Selbst Moral und Zivilisation seien evolutionäre Produkte, rückführbar auf auch in anderen Tieren vorhandene soziale Instinkte wie den Reproduktionstrieb.

Bezüglich der aktuellen Debatte über die Moralfähigkeit von Tieren, insbesondere beruhend auf den Untersuchungen der Kognitionsfähigkeit „großer Menschenaffen“ warnt Ferrari zurecht davor, die Ergebnisse kognitiver Ethologie, die auf Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier hinweisen, als Argument in der Tierrechtsdebatte zu verwenden, denn dadurch würden diese Ergebnisse noch einmal durch die dualistische Perspektive interpretiert.

Unüberwindlichkeit des Mensch-Tier-Dualismus = Speziesismus

Ferrari weist darauf hin, dass der 1970 von Richard Ryder eingeführte Begriff Speziesismus, mit dem die Diskriminierung aufgrund von Artzugehörigkeit bezeichnet wird, mit den Beschreibungen von Diskriminierungsformen wie Rassismus und Sexismus verwandt ist. Peter Singer popularisierte den Begriff und verband ihn mit dem Gleichheitsprinzip. Gleiche Bedürfnisse, etwa die nach Leidensfreiheit empfindungsfähiger Lebewesen, gleich ob Tier oder Mensch, seien grds. gleichermaßen zu berücksichtigen. Eine Unterscheidung zulasten von Tieren allein aufgrund ihrer Artzugehörigkeit sei eine auf Speziesismus beruhende, ungerechtfertigte und somit abzulehnende Ungleichbehandlung.

Sowohl Singer als auch der an ihn gedanklich anknüpfende Tom Regan nehmen allerdings wiederum Einschränkungen der moralischen Relevanz aufgrund des Komplexitätsgrades oder einer „subject-of-a-life“-Eigenschaft vor. Diese sollen auf Eigenschaften wie Selbstwahrnehmung und Zukunftssinn beruhen – eine neben der Sache liegende Unterscheidung, wie Ferrari dankenswerterweise unter Bezugnahme auf den Gegenentwurf Gary Franciones feststellt, der für die moralische Anerkennung fundamentaler Rechte die bloße Fähigkeit, Freude und Leid empfinden zu können, ausreichen lässt.

Ansätze zur Überwindung des Speziesismus

Nach der von Ferrari eingangs vorgenommenen Definition von Anthropozentrismus und der anschließenden Beschreibung seiner historischen Entwicklung inklusive der wechselnden Begründungen zu seiner Rechtfertigung und der Spielarten der antispeziesistischen Entwürfe skizziert sie die – vor allem im Rahmen der Kritischen Theorie geführte – zeitgenössische Diskussion zur Verknüpfung von Herrschaftsverhältnissen im menschlichen Bereich und der Tierausbeutung. Tierbefreiung sei danach die Voraussetzung für die Emanzipation des Menschen. Notwendig sei eine Beendigung der Unterdrückung der Natur, nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren, wozu die instinktiven Impulse des Menschen gehörten. Die Klassifizierung in starre Kategorien, wie sie die klassische Tierethik vornimmt und Speziesismus als bloßes moralisches Vorurteil ablehnt, reicht dieser Lehre, die sich gegen Tierausbeutung als Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen richtet, nicht aus. Sie sieht die Gründe für die speziesistische Nichtachtung tierlicher Bedürfnisse und Rechte in einem verinnerlichten Mechanismus, der es dem Menschen als legitim erscheinen lässt, Tiere auszubeuten.

Einen weiteren Ansatzpunkt verwendet die das Anderssein ins Zentrum stellende Verwundbarkeitstheorie, die die Verletzlichkeit der Körper und Gefühle von Tieren in den Fokus rückt und u. a. Empathie an die Stelle von Rationalität setzt.

Schließlich beschreibt Ferrari die argumentativen Versuche von „Posthumanist:innen“[7]Ferrari gebraucht den Begriff Posthumanismus offenbar nicht in dem – ebenfalls vertretenen – Sinne, dass der Mensch ein Auslaufmodell darstelle, das von seinen technischen Schöpfungen überholt … Weiterlesen, einige humanistische Grundideen inklusive deren Anthropozentrismen zu überwinden. Sie stellen die Binarität des Humanismus in Frage und betonen die Kontinuität von Menschen und Tieren und plädieren für eine neue Deutung der Subjekte der moralischen bzw. politischen Gemeinschaft.  Allerdings stellten bedeutende Vertreter:innen dieser Denkrichtung umstrittene Thesen auf, zu denen Rechtfertigungen für Tierversuche und Fleischkonsum gehören. Diese Legitimationsversuche von Gewalt gegenüber Tieren entlarvt die insoweit vorgelegten Vorschläge als ethisch anachronistisch.

Zusammenfassend stellt Ferrari fest, dass die bisherige Kritik an der Erniedrigung von Tieren durch Verweigerung der Anerkennung ihrer Komplexität zwar eine kritische Diskussion ermöglicht habe, bisher aber nicht zu einer Abschaffung der Unterdrückungsstrukturen geführt habe. Anstatt nach besonderen Eigenschaften bei Mensch und/oder Tier als Anknüpfungspunkt für eine Exklusivstellung im Rahmen einer Hierarchie zu suchen, plädiert sie für eine Kultivierung von Rücksichtnahme und Mitgefühl, die unabhängig von besonderen Fähigkeiten sind und eine friedliche Koexistenz unterschiedlicher Lebensformen auf der Erde ermöglichen würde.

Fazit

Die besondere Bedeutung des Textes von Arianna Ferrari liegt in der Darstellung der ideenhistorischen Ursachen für die tragische Selbstzentriertheit des Menschen, die der Grund für eine gesellschaftlich und kulturell weitgehend unhinterfragte und buchstäblich bis aufs Blut gehende, Leid und Tod verursachende Unterdrückungssystematik ist. Die Absurdität der verschiedenen Rechtfertigungen wird, auch ohne dass Ferrari dies explizit ausspricht, vor allem dadurch deutlich, dass diese im Spiegel der Zeit an die jeweiligen kulturellen Gegebenheiten angepasst wurden. Es fällt schwer, eine Argumentationslinie zu finden, mit der die Unterjochung von Tieren noch nicht an den Haaren herbeigezogen wurde. Dass die durchaus vorhandenen Gegenstimmen im Lauf der Jahrhunderte weitgehend ungehört blieben und sich gerade diejenigen „Denker“ als maßgebliche Figuren des kulturellen Erbes der heutigen Gesellschaft durchgesetzt haben, mag hierbei kein Zufall sein. Wahrscheinlicher ist, dass auf die Einzigartigkeit des Menschen gerichtete Theorien größere Resonanz bei den Mitangehörigen der Spezies Mensch auslösen, fühlen sie sich dadurch doch in ihrer selbstempfundenen Grandiosität bestätigt.

Es ist auch richtig, den Blick auf die umfassenderen Herrschaftszusammenhänge und verfestigten Ausbeutungsstrukturen zu richten, wie Ferrari es getan hat, wenn sie Marco Maurizi zitiert: „Wir beuten Tiere nicht aus, weil wir sie für niedriger halten, sondern wir halten sie für niedriger, weil wir sie ausbeuten.“ Tiere leiden für Milch im Kaffee, Omelett, Geschnetzeltes oder ein Paar Wollsocken. Dies ist der Grund, weshalb sich selbst progressive Parteien, repressionskritische Organisationen und Bewegungen mit der Emanzipation von Tieren oft schwerer tun, als es die ethische Offensichtlichkeit und Dringlichkeit der Thematik vermuten ließe.

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ist seit 2013 Justiziar bei PETA Deutschland e.V. und leitet die Rechtsabteilung PETAs im Berliner Büro. Neben sämtlichen rechtlichen Aspekten sind die Bereiche Tierethik und Tierschutzpolitik Schwerpunkte seines Einsatzes für eine speziesismusfreie Welt.

Quellen[+]