Obsiegen ist relativ – und Veganismus ist ein Menschenrecht.

Zur Entscheidung des VG Münster vom 09.02.2022, 5 K 2576/20, 5. Kammer

 

Das Verwaltungsgericht Münster (VG Münster) hatte über die Berechnung und die Höhe von „reduziertem Trennungstagegeld“ eines bei der deutschen Bundeswehr tätigen, aus ethischen Gründen vegan lebenden Berufsoffiziers zu befinden und entschieden: Säkularethischer Veganismus fällt in den Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 , 2 Grundgesetz (GG).[1]Die Entscheidung ist im Volltext abrufbar unter https://rewis.io/urteile/urteil/kg1-09-02-2022-5-k-257620/, zuletzt abgerufen am 11.08.2022. Die Fußnoten entsprechen dieser Veröffentlichung.

Bemerkenswerterweise hat das Gericht in diesem Zusammenhang die vegane Ernährung des Klägers als „Ausdruck einer verfestigten, konsequenten und ethisch begründeten umfassend veganen Lebensweise“ bezeichnet. Es bewertet diese für den Fall des Klägers als vom Schutzbereich des einheitlichen Grundrechts der Glaubens-, Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit des Art. 4 Abs. 1, 2 GG umfasst. Der Kläger bekam zwar nur drei Zwanzigstel  der beanspruchten Geldansprüche zugesprochen; die Stärke der Entscheidung liegt indes in ihrer Begründung.

Der Sachverhalt (stark vereinfacht)

In der Sache ging es um die Berechnung und die Höhe sogenannten Trennungstagegelds nach der Trennungsgeldverordnung (TVG) und dem Bundesreisekostengesetz (BRKG). Dies stand dem Kläger, dessen Dienstort ein anderer war als sein Familienwohnort, dem Grunde nach zu.

Gestritten wurde aber um die Frage, ob und wie dieses Trennungstagegeld gekürzt werden darf. Dabei ging es, wie im Verwaltungsrecht üblich, um die Ausfüllung eines unbestimmten Rechtsbegriffs, im konkreten Fall des Wortes „triftiger Grund“.[2]§ 9 Abs. 1 BRKG, Nr. 202 ZDv A-2211/9, Nr. 209 ZDv A-2211/9.

Die beklagte Dienstherrin des Klägers ist der Auffassung, dass sein Trennungstagegeld zum einen ab dem 15. Diensttag um 50 % zu kürzen sei (sogenanntes „ermäßigtes Trennungstagegeld“ nach § 8 Abs. 1 BRK). Eine weitere Reduzierung sei vorzunehmen, weil der Kläger die Wahl habe, mittags die Kantine am Dienstort in Anspruch zu nehmen und er keinen „triftigen Grund“ vorweisen könne, dies nicht zu tun.[3]Reduzierung auf den Betrag der „notwendigen Mehrauslagen“, § 4 Abs. 5 TVG. Um diese zweite Reduzierung soll es in der vorliegenden Besprechung des Urteils vor allem gehen, denn die Einordnung des Gerichts ist von besonderer Tragweite – nicht nur für vegan lebende Soldaten.

Der Kläger begehrt die Bewilligung der Trennungstagesgeldsätze in voller Höhe und begründet dies damit, dass er in jedem Bereich konsequent vegan lebe und deshalb das Verpflegungsangebot in der Kantine der Dienstherrin zu keiner Zeit nutzen könne. Zum einen halte die Dienstherrin keine optionale vegane Verpflegung auf Bestellung (anders als koscher oder halal) vor, zum anderen sei es ihm auch nicht zuzumuten, sich selbst aus den vegetarischen Komponenten eine Mahlzeit zusammenzustellen, da hier nicht gewährleistet sei, dass sie überhaupt keine tierischen Produkte enthalten oder bei deren Herstellung keine tierischen Produkte verwendet wurden. In seiner Entscheidung, sein Leben konsequent vegan auszurichten und sich dementsprechend vegan zu ernähren, liege ein „triftiger Grund“, der erlaube, von der Ermäßigung des Trennungstagegeldsatzes abzusehen. Bei Nichteinhaltung dieser Maßgaben werde er verfassungsrechtlich diskriminiert und finanziell mehrbelastet.

Als triftige Gründe, von der Reduzierung des Tagesgeldsatzes abzusehen, sind etwa zu kurze Pausenzeiten, eine Schwerbehinderung oder ärztlich verordnete Diätkost anerkannt.[4]§ 9 Abs. 1 BRKG, Nr. 202 ZDv A-2211/9, Nr. 209 ZDv A-2211/9. Die Dienstherrin führt aus, die Ernährungsweise des Klägers sei damit nicht vergleichbar. Die Bundeswehr biete vegane Kost nicht an, weil diese nach wissenschaftlichen Erkenntnissen eine einseitige Nahrungsmittelaufnahme darstelle und gesundheitliche Risiken berge. Die dahinterstehende Philosophie sei im Hinblick auf etwa die Verbesserung des Tierwohls, Klimaschutzes, der Verteilungsgerechtigkeit sowie der Welternährung anerkennenswert; die Ernährungsweise beruhe jedoch auf einer komplett freien Entscheidung. Die Dienstherrin könne nicht auf Einzelwünsche und Vorlieben eines jeden einzelnen Berufssoldaten eingehen.[5]VG Münster v. 09.02.2022, 5 K 2576/20, Rn 6.

Die Einschätzung des Gerichts

Das VG hatte zunächst darüber zu entscheiden, ob die Reduzierung des Trennungstagegelds nach dem 15. Tage des Monats rechtmäßig war. Dies bejahte es. Der Grundsatz der 50%-igen Reduzierung des Tagesgeldes ergibt sich aus § 8 Abs. 1 BRKG.

Vegane Lebensweise als „triftiger Grund“ – keine (weitere) Reduzierung des Trennungstagegeldes

Eine weitere Kürzung des 50%-igen Maximalsatzes nimmt das Gericht jedoch nicht vor.[6]VG Münster v. 09.02.2022, 5 K 2576/20, Rn. 26. Es will dem Kläger nicht zumuten, auf die omnivore Kantinenverpflegung bzw. die vegetarischen Optionen zurückzugreifen, sondern bezeichnet die strikt vegane Lebensweise des Klägers als triftigen Grund, davon abzusehen. Ein solcher triftiger Grund ist nach Auffassung des Gerichts gegeben, wenn die tatsächliche Inanspruchnahme der angebotenen Verpflegung die berechtigte Person in eine ernste weltanschauliche, religiöse oder gewissensmäßige Not drängen würde. Das Gericht bejaht das Vorliegen einer derartigen Situation:

„Die vegane Ernährungsweise ist, zumindest soweit sie – wie im Fall des Klägers (…) – Ausdruck einer verfestigten, konsequenten und ethisch begründeten umfassend veganen Lebensweise ist, vom einheitlichen Schutzbereich der Glaubens-, Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG umfasst.[7]VG Münster v. 09.02.2022, 5 K 2576/20, Rn. 46.

Das Gericht führt aus, Art. 4 Abs. 1, 2 GG sei ein umfassend zu verstehendes, einheitliches Freiheitsrecht,[8]Germann, in: Epping/Hillgruber, BeckOK zum Grundgesetz, 51. Ausgabe 2022, Art. 4 Rn. 7, 19. welches auch das Recht beinhalte, das Leben insgesamt nach einem bestimmten Verständnis auszurichten. Aus der Erstreckung im Fortgang des Satzes in Art. 4 Abs. 1 GG auf das weltanschauliche Bekenntnis ergebe sich, dass Glaube nicht nur religiöser Glaube, sondern auch weltanschaulicher Glaube sein könne.

Als Gegenstück für die bei der Religionsfreiheit zu bejahende Transzendenz werden jedoch bei der Weltanschauungsfreiheit „erklärende innerweltliche Bezüge“ verlangt. Darunter versteht man die feste Überzeugung des Menschen einer existierenden Wahrheit innerhalb des „Weltganzen“ und eine bestimmte, ausschlaggebende Stellung des Menschen innerhalb dieses Weltganzen. Funktionell tritt die Weltanschauung als Grundrecht damit an die Stelle der Religion. Die Vergleichbarkeit von Religion und Weltanschauung liegt in den inneren Bezügen und im Erklärungsanspruch. Bewusst werden bei der Auslegung allein politische Überzeugungen ausgeschlossen, da diese nicht das Gewicht einer umfassenden Glaubensposition in sich tragen.[9]Zudem soll ausgeschlossen werden, dass politisch extreme Ansichten grundrechtlichen Schutz erhalten. Die Weltanschauung sollte in sich stimmig und allumfassend sein und damit die Vergleichbarkeit mit der Religion begründen.[10]VG Münster v. 09.02.2022, 5 K 2576/20, Rn. 48.

Zum Grundrecht der Gewissensfreiheit stützt sich das Gericht auf die Auffassung, dieser Begriff sei im Zusammenhang mit Art. 4 Abs. 3 GG wie im „normalen“ Sprachgebrauch zu verstehen. Gewissen ist demnach ein real erfahrbares seelisches Phänomen; und dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens. Das Gewissen macht es für den Menschen unabwendbar, sich zu entscheiden – das Gewissen trifft quasi die Entscheidung.

Als Gewissensentscheidung ist jede ernste sittliche, an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung anzusehen, die jede:r Einzelne in einer Weise als bindend erfährt, dass er oder sie sich nicht gegen sie wenden kann.[11]Bundesverfassungsgerichts, Beschluss vom 20. Dezember 1960 – 1 BvL 21/60 BVerfGE 12, 45 (55).

Die Maßstäbe, anhand derer sich dieses Gewissen entwickelt, sind dabei unbeachtlich. Das Gewissen funktioniert mit, aber auch ohne Religions- oder sogar Vernunftsystem; und es wird als immer sehr eng mit dem durch die Menschenwürde erfassten Persönlichkeitskern verknüpft gesehen.[12]VG Münster v. 09.02.2022, 5 K 2576/20, Rn. 58.

Einlassungen des Klägers ausreichend

Das Gericht sah die ausführlichen Darlegungen des Klägers zur Anwendung dieses Grundrechts als hinreichend substantiiert an.[13]VG Münster v. 09.02.2022, 5 K 2576/20, Rn. 59. Dieser hatte das Vorliegen eines triftigen Grundes zur vollen Überzeugung des Gerichts ausgeführt und sich auf konkrete Beispiele zur Begründung seiner säkularethisch-veganen Lebensweise gestützt, wie etwa die schlimme Behandlung der Kühe in der Milchwirtschaft. Er gehe von einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller leidensfähigen Lebewesen aus – der Mensch sei letztlich selbst ein Teil des Tierreichs. Er stütze seine Überzeugung unter anderem auf die Ausführungen des Philosophen Peter Singer, der den Anthropozentrismus und daraus resultierenden Speziesismus als treibende Kraft für die Ausbeutung der Tiere in der Nahrungsmittel-, Kosmetik-, Bekleidungs- und Unterhaltungsindustrie einordnet. Der Kläger führt aus, für ihn bestehe ein unbedingtes Gebot, niemals und in keiner Weise durch sein eigenes Konsumverhalten an der von ihm als unethisch empfundenen Ausbeutung Angehöriger anderer Spezies mitzuwirken.[14]VG Münster v. 09.02.2022, 5 K 2576/20, Rn.59. Das Gericht stellt diese authentischen Bekundungen des Klägers in ihrer Bedeutung neben die der christlichen Überzeugung, nach der Gott dem Menschen die Erde gegeben habe, damit dieser sie sich untertan mache.[15]VG Münster v. 09.02.2022, 5 K 2576/20, Rn. 60 mit entsprechendem Bibelzitat.

Einordnung der Entscheidung

Die Auslegung des VG Münster gliedert sich in eine Reihe von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zur Auslegung des Begriffs „Weltanschauung“ ein. Dieser sieht sowohl den religiösen als auch den säkularethischen Veganismus als von Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützt. Der Weltanschauungsbegriff der EMRK ist damit weiter gefasst, als er bislang im nationalen Recht interpretiert wurde, was immer wieder Auslöser für Auslegungsprobleme und Schutzlücken war.

Rechtsanwalt Ralf Müller-Amenitsch, der sich auch auf die Rechte von Veganer:innen spezialisiert hat, hält dementsprechend an der Entscheidung für bemerkenswert, dass das Gericht in Art. 4 Abs. 1, 2 GG die Glaubens-, Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit verbunden hat und damit zu einer Begrifflichkeit gekommen ist, wie wir sie sonst von der EMRK kennen. Bei Art. 9 EMRK, dem sogenannten non-religious-belief, reiche – so Amenitsch – eine verfestigte, in sich schlüssige Haltung eben auch zur Eröffnung des Schutzbereichs des Grundrechts aus. Die säkularethischen Veganer:innen würden folglich durch die Entscheidung des VG Münster erstmals in den Schutzbereich integriert, nachdem sie nach bisheriger Lesart des Weltanschauungsbegriffs regelmäßig ausgenommen wurden. Durch die Betonung der Auslegung als einheitliches Grundrecht nähere man sich auch wieder der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) an, der die Geltung des Europäischen Freiheitsrechts in verschiedenen Urteilen auch für ethische Veganer:innen anerkannt hat. Amenitsch weiter:

„Im Bereich der Glaubensfreiheit hat es die Verknüpfung von Glauben und Vegetarismus/Veganismus schon in Urteilen gegeben. Die nicht-religiöse Ethik war bisher in diesem Rahmen nicht geschützt. Diese Lücke kennen wir in den europäischen Menschenrechten nicht, aber unsere Verfassung schien sie vorzugeben. Das Thema wurde jetzt sehr schön vom VG Münster unter Betonung der Einheitlichkeit des Grundrechts gelöst und brillant hergeleitet und ausformuliert. Das Urteil ist rechtskräftig, und es gibt wenig dagegen einzuwenden. Festhalten kann man, dass säkularethische Veganer:innen einen eigenen Schutz verdienen.“

Ausblick

Die besprochene Thematik wird auch eine Rollebei der Auslegung der Weltanschauungsfreiheit im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) spielen. Dort gibt es ebenfalls immer noch eine Tendenz, den Weltanschauungsbegriff nicht einzubeziehen, basierend auf der zu engen bisherigen Definition. Das hat zur Folge, dass ein religiös motivierter Veganismus ein Diskriminierungsverbot etwa im Arbeitsrecht begründete – der säkularethische allerdings nicht. Mit der Gesamtbetrachtung als einheitliches Grundrecht schließt die Auslegung im Urteil daher eine Lücke, die an anderer Stelle freiwillig oder unfreiwillig aufgerissen wurde. Vor allem vor dem Hintergrund der nunmehr widerspruchsfreien Interpretation ist zu hoffen, dass sich die zutreffende Auslegung des Weltanschauungsbegriffs des VG Münster zu einer ständigen Rechtsprechung entwickelt.

 

Website | Beiträge

ist seit Dezember 2021 Teil des Rechtsteams bei PETA in Berlin mit den Schwerpunkten Tier(schutz)recht, Tierethik und Verfassungsrecht.

Quellen[+]