Traurige Traditionen

Die rechtliche Bewertung vom Tierleid unter dem Deckmantel von Tradition und Brauchtum

„Das war schon immer so, das hat Tradition“ – ein sehr beliebtes Argument, wenn man Menschen damit konfrontiert, dass sie Tierleid verursachendes Handeln befürworten oder gar unmittelbar selbst hervorrufen. Einige dieser sogenannten Traditionen führen zum Tod der Tiere, die unfreiwillig Teil dieser Bräuche sind. Neben den bereits in der Öffentlichkeit viel diskutierten und mit endlosem Tierleid verbundenen Traditionen wie Stierjagd und -kampf möchten wir in diesem Beitrag die Aufmerksamkeit vor allem auf lokale und regional ausgeübte Traditionen und Bräuche lenken.

Hahneköppen

Das Hahneköppen ist eine dieser Traditionen. Meist findet es im Zusammenhang mit einem Volksfest im Bergischen Land, in der Eifel, in der Gegend um Köln, im Jülicher Land und im Raum Neuss statt. Beim Hahneköppen wird ein zuvor zum Zweck des Hahneköppens getöteter Hahn an einer hierfür gebauten Vorrichtung kopfüber aufgehängt Ziel ist es, dass eine:r der Teilnehmenden dem Tier – meist mit verbundenen Augen – den Kopf mit einem stumpfen Säbel abschlägt. Die Person, die den Kopf des Tieres abtrennen konnte, wird sodann zum Hahnenkönig oder zur Hahnenkönigin ernannt. Dass das Tier zu diesem Zeitpunkt bereits tot ist, macht diesen Brauch nicht weniger grausam. Denn zum einen wird einem Tier das Leben genommen, nur um es in einem derartigen Wettbewerb einsetzen zu können. Und zum anderen ist dies ein würdeloser Umgang mit einem getöteten Lebewesen.

Die Veranstaltung degradiert ein Tier, das leben wollte, zu einem Objekt. Die Teilnehmenden schlagen so oft mit einem stumpfen Säbel oder Degen auf den Hals des Tieres, bis dieser durchtrennt ist. Dass das Tier hierbei oft blutet und am Ende meist zerfetzt ist, da die Personen ja nicht sehen, wohin genau sie schlagen, scheint sowohl die Teilnehmenden als auch die Zuschauenden nicht zu stören. Und noch dramatischer: Den zuschauenden Kindern wird durch diesen grausamen Umgang suggeriert, es sei in Ordnung, so mit einem Lebewesen umzugehen.

Dabei gibt es selbstverständlich tierleidfreie Alternativen. So hat sich zum Beispiel das sogenannte Gänsereiten, bei dem Gänse aufgehängt wurden, damit vorbeireitende Reiter:innen ihnen sodann den Kopf abreißen konnten, in der Vergangenheit gewandelt.[1]VG Gelsenkirchen Urt. v. 4.2.2016, 16 L 221/16, BeckRS 2016, 41967. Nachdem im Jahre 1806 der Einsatz lebender Gänse verboten wurde, verwendet man mittlerweile Attrappen. Und trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Veränderung ist die Veranstaltung beliebt.[2]VG Gelsenkirchen Urt. v. 4.2.2016, 16 L 221/16, BeckRS 2016, 41967.

Memminger Fischertag

PETA Deutschland e.V. hat die Stadt Memmingen in Bayern im August 2021 offiziell zur tier- und frauenfeindlichsten Stadt Bayerns auserkoren. Grund hierfür ist der Memminger Fischertag. Dieses traditionelle Volksfest basiert im Wesentlichen darauf, dass mehrere Hundert Teilnehmer an einem festen Tag im Sommer in den Stadtbach springen und mit großen Keschern versuchen, möglichst viele Fische zu fangen. Wir sprechen bewusst von Teilnehmern und nicht von Teilnehmer:innen, da Frauen bis einschließlich 2021 nicht teilnehmen durften. Im Juli 2021 hat das Amtsgericht Memmingen entschieden, dass auch Frauen an diesem tierfeindlichen Brauch teilnehmen dürfen.

Das Volksfest geht auf eine vor Jahrhunderten entstandene Tradition zurück. Hintergrund hierfür war ursprünglich, dass der Stadtbach jährlich „gereinigt“ werden sollte. Hierfür ließen die Dorfbewohner:innen das Wasser ab und fingen die Tiere heraus, damit die Fische nicht ersticken. Zwar hätte man auch zur damaligen Zeit die Fische einfach zeitweise umsiedeln können, anstatt sie zu fangen und zu töten. Doch jetzt, da der Bach auch gereinigt werden kann, während das Bachwasser weiter fließt, ist dieses Prozedere endgültig überholt.

Kann das Töten für die Brauchtumspflege einen „vernünftigen Grund“ darstellen?

Aber kann die Tatsache, dass tierquälerisches Verhalten Tradition hat, überhaupt einen „vernünftigen Grund“ nach      § 17 Nr. 1 Tierschutzgesetz (TierSchG) darstellen? Ein „vernünftiger Grund“ ist das Motiv, dass das Tierschutzgesetz in Deutschland voraussetzt, damit ein Wirbeltier straffrei getötet werden darf. Liegt ein „vernünftiger Grund“ nicht vor, macht man sich nach § 17 Nr. 1 TierSchG strafbar, Strafrahmen: Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren. Was ein „vernünftiger Grund“ im Sinne dieser Norm ist, ist nicht legaldefiniert. Das Gesetz selbst gibt also nicht konkret vor, welche Voraussetzungen hierfür genau vorliegen müssen.

In der Rechtsprechung und Literatur wurde jedoch eine Definition herausgearbeitet:

„Vernünftig ist ein Grund, wenn er als triftig, einsichtig und von einem schutzwürdigen Interesse getragen anzuerkennen ist und wenn er unter den konkreten Umständen schwerer wiegt als das Interesse des Tiers an seiner Unversehrtheit und an seinem Wohlbefinden.“[3]Lorz/Metzger/Metzger, TierSchG, 7. Aufl. 2019, § 1 Rn. 61.

Ausgehend von dieser Definition muss also eine Abwägung stattfinden.[4]Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 28.06.2011, Az.: 2 Ss 82/11, Juris-Rz. 12. Hierzu wird das Interesse des Tieres an seiner Unversehrtheit und an seinem Wohlbefinden dem Nutzen, den der Tod des Tieres angeblich haben soll, gegenübergestellt.

Das Töten von Tieren aus reiner Traditionspflege – wie es in den aufgeführten Fällen gegeben ist – kann das Interesse der Tiere, am Leben zu bleiben, unter keinen Umständen aufwiegen. Man muss in diesen Fällen nicht einmal so tief in die Materie gehen und analysieren, wann und ob überhaupt jemals ein Grund „vernünftig“ sein kann, um hierfür einem fühlenden Lebewesen das Leben zu nehmen. Denn wenn man sich dieser Frage ehrlich nähert, kann man nur zu dem Ergebnis kommen, dass als „vernünftiger“ Grund für die Tötung eines Lebewesens lediglich der Schutz existenzieller Interessen in konkreten Gefährdungssituationen in Betracht kommen kann, wie beispielsweise des Lebens selbst oder zur Bewahrung vor unerträglichem Leid beziehungsweise Schmerz.

In den vorliegenden Fällen steht hingegen der Gedanke, Menschen unterhalten zu wollen und die Begründung, dass man dies „schon immer so gemacht hat“. Den Tod eines Lebewesens rechtfertigt das nicht. Ein Leben, das wie jedes andere Leben einmalig und wertvoll ist, wird für einen flüchtigen Moment des vermeintlichen Dorf-Ruhms, der Anerkennung und der angeblichen Traditionspflege grausam beendet.

Rechtfertigung bei „Motivbündel“?

Selbst wenn – wovon nicht auszugehen ist – die Tiere nach dem Köpfen gegessen würden, wäre hierdurch kein „vernünftiger Grund“ im Sinne des § 17 Nr. 1 TierSchG gegeben. Wenn man mit einem Eingriff mehrere Zwecke verfolgt (sogenanntes „Motivbündel“), ist für die Rechtfertigung allein der Hauptzweck maßgeblich.[5]Hirt/Maisack/Moritz, Kommentar zum Tierschutzgesetz, 3. Auflage 2016, § 1 Rn. 33. Es handelt sich lediglich um einen untergeordneten Nebenzweck, der für eine etwaige Rechtfertigung nicht berücksichtigt werden darf. Hauptzweck ist und bleibt hier die Traditions- bzw. Brauchtumspflege – und damit auch das alleinige Motiv, an dem bei der Tötung und der Frage des Vorliegens eines rechtfertigenden „vernünftigen Grundes“ anzuknüpfen ist.

Verdeutlichung durch den Maßstab der Kunstfreiheit

Noch deutlicher wird dieser Missstand, wenn man betrachtet, dass selbst die Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz (GG) keinen angemessenen Rechtfertigungsgrund bietet, um Tieren Schäden zuzufügen.

Gem. § 3 S. 1 Nr. 6 TierSchG ist es verboten und stellt eine Ordnungswidrigkeit dar, ein Tier für Filmaufnahmen, zur Schaustellung, Werbung oder anderen Veranstaltungen zu nutzen. Unter „anderen Veranstaltungen“ werden auch Veranstaltungen mit künstlerischem Charakter aufgefasst.[6]Hirt/Maisack/Moritz, Kommentar zum Tierschutzgesetz, 3. Auflage 2016, § 3 Rn. 35.

Bei der hier erforderlichen Abwägung zwischen der grundrechtlich garantierten Kunstfreiheit und dem Interesse des Tieres, von Leiden freizubleiben, wiegt das Verbot der Leidens- und Schadenszufügung in der Regel schwerer: Zum einen gibt es für die Künstler:innen Möglichkeiten, das geistig-seelische Erlebnis, das mit der künstlerischen Tätigkeit ausgedrückt werden soll, in schöpferisch-gestalterischer Form umzusetzen, ohne dass Tiere getötet und Tierleid verursacht wird. Zum anderen wiegen mögliche Nachteile, die dadurch entstehen, dass auf solche tierschonenden Alternativen ausgewichen wird, regelmäßig weniger schwer, als die Belastungen des Tieres.[7]Hirt/Maisack/Moritz, Kommentar zum Tierschutzgesetz, 3. Auflage 2016, § 3 Rn. 35.

Da noch nicht einmal die Kunstfreiheit derartige Eingriffe erlaubt, kann man die Brauchtumspflege erst recht nicht als Rechtfertigungsgrund dafür heranziehen, dass Tiere – hier die Hähne und Fische – geschädigt oder gar getötet werden. Insbesondere, da die Brauchtumspflege selbst lediglich über das „Auffanggrundrecht“ der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG Grundrechtsschutz genießt.

Art. 103 GG – keine Strafe ohne Gesetz

Das oben Ausgeführte verstößt auch nicht gegen den Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ aus Art. 103 Abs. 2 GG. Dieser bestimmt, dass eine Tat nur dann bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Befürworter:innen der traditionsbedingten Tötung von Tieren behaupten, durch die bloße Änderung gesellschaftlicher Vorstellungen würden Sachverhalte der Strafbarkeit unterliegen die zuvor nicht als strafbar angesehen worden sind.

Aus fehlender entsprechender Rechtsprechung und Anklagen in der Vergangenheit allein kann man jedoch nicht ohne Weiteres schließen, dass das in Rede stehende Verhalten straflos bleibt.

Art. 103 Abs. 2 GG soll sicherstellen, dass jede Person ihr Verhalten auf die Rechtslage einrichten kann und keine willkürlichen staatlichen Reaktionen auf dem Feld des Strafrechts befürchten muss. Die Gesetzgebung und nicht die Gerichte soll über die Strafbarkeit eines Verhaltens entscheiden.

Dies darf man jedoch nicht mit der ureigenen Aufgabe der Gerichte verwechseln, die fragliche Norm zu interpretieren und auszulegen. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen die Gesetzgebung von unbestimmten Rechtsbegriffen Gebrauch gemacht hat. Die Tatsache, dass die Rechtsprechung die Problematik in der Vergangenheit weitgehend unreflektiert als gerechtfertigt angesehen hat, hindert daher weder Staatsanwaltschaften noch Gerichte daran, den „vernünftigen Grund“ erneut auszulegen. Im Gegenteil. Dieser Rechtsbegriff muss fortwährend genau ausgelegt und geprüft werden, auch mittels Abwägung an den Maßstäben der Gegenwart. Und wenn das Auslegungsergebnis dazu führt, dass der Anlass für das Töten eines Tieres keinen vernünftigen Grund darstellt, ist die Tat konsequent zu ahnden.

Speziesismus

Solche und andere Formen der Tierquälerei und Tierausbeutung sind nur möglich, weil eine speziesistische Denkweise unsere Gesellschaft durchzieht. Speziesismus bezeichnet die ungerechtfertigte Benachteiligung anderer Lebewesen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit. Die Interessen von nicht-menschlichen Tieren haben in unserer Gesellschaft einen viel geringeren Stellenwert als die Interessen von uns menschlichen Tieren. Ferner werden die unterschiedlichen Arten entsprechend ihrem Nutzen für den Menschen kategorisiert, für unsere Zwecke ausgebeutet und getötet.

Folgendes Gedankenexperiment macht dies besonders deutlich:

Müsste beim Hahneköppen anstelle des Kopfes eines Hahnes der eines toten Hundes oder einer toten Katze abgetrennt werden, könnte diesen Anblick kaum jemand ertragen. Niemand würde bei diesem Gemetzel zusehen wollen oder es gar anfeuern. Es würde vielmehr einen öffentlichen Aufschrei des Protests geben.

Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und kritisieren, dass teilweise auf lebensechte Attrappen ausgewichen wird. Denn die Tatsache, dass man Attrappen nutzt, die gezielt einem Lebewesen ähnlich sehen sollen, werden die meisten Menschen in dem Moment ablehnen, in dem es nicht mehr um Attrappen sogenannter „Nutztiere“ geht, sondern um Attrappen von Menschen, Hunden oder Katzen.

Und das liegt allein daran, dass viele Menschen gelernt haben, Tiere in Kategorien einzuordnen. Die einen Tiere leben mit uns und gehören zur Familie, die anderen Tiere werden für unsere Zwecke wie Gegenstände benutzt. Daher fällt es vielen Menschen leichter, die beschriebenen Vorgänge – nämlich Tiere zu töten, zu fangen, zu misshandeln – an solchen Tierarten ausüben. Was Sie selbst tun können, um Speziesismus etwas entgegenzusetzen, erfahren Sie hier.

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arbeitet seit Dezember 2021 als Justiziarin für das PETA-Rechtsteam und befasst sich vorwiegend mit Fragestellung aus dem Bereich des Tierschutz- und Medienrechts.

Quellen[+]