Das deutsche Rechtssystem kategorisiert Tiere in Menschen und Nichtmenschen, bezeichnet allerdings nur die Nichtmenschen als Tiere. Menschen gelten als natürliche Personen und sind damit Rechtssubjekte. Nur Rechtssubjekte können rechtlich verbindlich Entscheidungen treffen und ihre Rechte einklagen.[1]MüKoBGB/Spickhoff, 9. Aufl. 2021, BGB § 1 Rn. 32.
Die Menschen haben sich in einem Sozialstaat organisiert. Dieser ist Ausdruck einer solidarischen Vereinbarung und der institutionalisierten Bereitschaft, einander in Notsituationen zu helfen und beizustehen. Oberste Priorität des Sozialstaats ist es, die Grundrechte der Menschen auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen.[2]ErfK/Schmidt, 23. Aufl. 2023, GG Art. 2 Rn. 101. Solidarität allein bietet allerdings keinen zuverlässigen Schutz, weil darauf kein Rechtsanspruch besteht.[3]Ruland, Solidarität, NJW 2002, 3518 (3518). So ist der Staat an sein Solidarversprechen gebunden und garantiert jedem einzelnen Menschen im Falle seiner verschuldeten oder unverschuldeten Bedürftigkeit – jedenfalls in der Theorie – einen existenzsichernden Fürsorgeanspruch gegen den Staat.[4]Voßkuhle/Wischmeyer, Grundwissen – Öffentliches Recht: Das Sozialstaatsprinzip, JuS 2015, 693 (694).
Welchen Wert haben Leben und körperliche Unversehrtheit eines Tieres?
Die Staatszielbestimmung des Tier- und Umweltschutzes in Art. 20a Grundgesetz (GG) verleiht dem Tier keinen eigenen Anspruch auf Leben und körperliche Unversehrtheit,[5]Breuer, Klimaschutz durch Gerichte?, NVwZ 2022, 1233 (1239). denn sie schützt die Tiere stets in Beziehung zum Menschen als Teil seiner Welt und der Menschenrechte.[6]Ogorek, Wo bleibt der Tierschutz?, NVwZ 2016, 1433 (1436). Zwar gelten Tiere nach § 1 Tierschutzgesetz (TierSchG) als „Mitgeschöpfe“ des Menschen, deren „Leben und Wohlbefinden“ der Mensch aus seiner „Verantwortung“ heraus zu schützen hat. Dieses muss insbesondere für „Haustiere“ gelten, da der Mensch sich dazu entschied, diese zu zähmen und von seiner Fürsorge abhängig zu machen. Doch obwohl Tiere rechtlich als „Geschöpfe“ anerkannt sind, werden nach § 90a S. 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) die Regeln über Sachen grundsätzlich entsprechend auf sie angewandt. Somit sind Tiere formell Rechtsobjekte und keine Rechtssubjekte.[7]BeckOK BGB/Fritzsche, 67. Ed. 1.8.2023, BGB § 90a. Über Rechtsobjekte kann ein Rechtssubjekt ein Verfügungsrecht haben, wie etwa Besitz oder Eigentum.[8]BeckOK BGB/Fritzsche, 67. Ed. 1.8.2023, BGB § 90, Rn. 4. Konsequenz der Einordnung als Rechtsobjekt ist, dass aufgefundene hilf- und obdachlose Tiere nicht bereits aufgrund ihres Zustands den Staat zum Handeln zwingen können.
Für ausgesetzte Tiere wie diese zwei Meerschweinchen, die in Rheda-Wiedenbrück im Schnee zwischen Müll und Gestrüpp zurückggelassen wurden, bedeutet das, dass sie keinen eigenen Fürsorgeanspruch gegen den Staat haben, da sie vom Rechtssystem nicht als Rechtssubjekt eingeordnet werden.
Ob der Staat die Fürsorge für ein Tier übernimmt, hängt davon ab, ob es einem Menschen „gehört“
Wenn ein Mensch ein obdachloses Tier findet, hat dieser Mensch gegen den Staat einen Anspruch auf Versorgung des gefundenen Tieres nach §§ 967, 90a S. 3 BGB.[9]Felde, Der tierliebe T und die Fundtiere, JA 2017, 609 (612).
Für die Anwendbarkeit dieser Regelung aus dem Fundrecht muss das Tier allerdings im rechtlichen Sinn „verloren“ worden sein. Verloren im Sinne des § 965 BGB ist ein Tier dann, wenn es besitzlos, aber nicht herrenlos ist.[10]BeckOK BGB/Kindl, 67. Ed. 1.8.2023, BGB § 965. Das Tier ist besitzlos, wenn ein Mensch nach § 856 Abs. 1 BGB die tatsächliche Sachherrschaft, also eine Art faktischer Möglichkeit der Einwirkung,[11]MüKoBGB/F. Schäfer, 9. Aufl. 2023, BGB § 854 Rn. 60. über das Tier aufgegeben oder auf andere Weise verloren hat. Dieses ist unter anderem dann der Fall, wenn der Mensch ein Tier aussetzt oder das Tier entlaufen ist. Für die zwei Meerschweinchen aus dem Beispiel bedeutet das, dass bei ihrer Aussetzung[12]Respektive: bei der Aussetzung eines Tieres kommt der Straftatbestand des § 17 TierSchG, jedenfalls der Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit nach §§ 18 Abs. 1 Nr. 4, 3 S. 1 Nr. 3 TierSchG in … Weiterlesen „ihre“ Menschen sich dazu entschieden, nicht mehr auf die Meerschweinchen einzuwirken, sodass die Tiere besitzlos wurden. Damit wurden sie aber nicht zugleich herrenlos.
Eigentumsrechtliche Zuordnung: Herrenloses Tier, wildes Tier oder Fundtier?
Herrenlos ist ein Tier dann, wenn an ihm kein Eigentum mehr besteht, weil das Eigentum an ihm beispielsweise aufgegeben wurde nach § 959 BGB.[13]MüKoBGB/Oechsler, 9. Aufl. 2023, BGB § 958 Rn. 3. Eigentum im Sinne des § 903 BGB meint die Entscheidungsbefugnis über das Tier.[14]MüKoBGB/Brückner, 9. Aufl. 2023, BGB § 903 Rn. 23.
In den Rechtswissenschaften war lange strittig, ob ein Mensch sein Eigentum an einem „Haustier“ aufgeben und es somit überhaupt herrenlose „Haustiere“ geben kann. Denn die Regeln über Sachen können nur bedingt auf Tiere angewandt werden. Vermittelnd wird von ständiger Rechtsprechung vertreten, dass Menschen nur in Ausnahmefällen das Eigentum an Tieren aufgeben können.[15]Felde, Der tierliebe T und die Fundtiere, JA 2017, 609 (612).
Grundsätzlich gehören „Haustiere“ immer einem Menschen.[16]Respektive: da juristische Personen auch Rechtssubjekte sind, können Tiere auch im Eigentum einer juristischen Person stehen.
Das ergibt sich aus der Umkehr des Regelsatzes des § 960 Abs. 1 BGB, wonach „wilde Tiere“ immer herrenlos sind. Diese gehören aber dann nach § 960 Abs. 2 und 3 BGB einem Menschen, wenn sie gefangen wurden oder stets an einen von einem Menschen bestimmten Ort zurückkehren.[17]BeckOK BGB/Kindl, 67. Ed. 1.8.2023, BGB § 960 Rn. 1. Demnach müssen „Haustiere“, die in ihrem Überleben vom Menschen abhängig und so das Gegenteil zu „wilden Tieren“ sind, einem Menschen stets eigentumsrechtlich zuordenbar sein. Entsprechend ist es nach §§ 3 S. 1 Nr. 3, 18 Abs. 1 Nr. 4 TierSchG verboten, ein Tier auszusetzen oder zurückzulassen. Durch das Verbot ist die Eigentumsaufgabe eines Menschen an einem Tier stets rechtlich unwirksam nach § 134 BGB.[18]BVerwG, Urt. v. 26.04.2018, Az. 3 C 24.16, abrufbar unter https://www.bverwg.de/de/260418U3C24.16.0. In der Konsequenz sind aufgefundene „Haustiere“ nicht herrenlos und Fundtiere im rechtlichen Sinne, sodass das Fundrecht auf diese anwendbar ist.
Bei der Einschätzung, ob es sich bei dem aufgefundenen Tier um ein Fundtier handelt, werden zusätzlich sein Pflege- und Ernährungszustand, die Tätowierung oder das Vorhandensein eines Chips und die Zutraulichkeit des Tieres herangezogen. Paradoxerweise laufen Tiere in besonders desolatem Zustand so Gefahr, doch potenziell als herrenlos eingestuft werden zu können. Allerdings gilt bei verletzten „Haustieren“, die nicht selbstständig in ihr Zuhause bei einem Menschen zurückkehren können, wieder die Regelvermutung der Fundtiereigenschaft.[19]Felde, Der tierliebe T und die Fundtiere, JA 2017, 609 (612).
Auch die Kinder von Fundtieren sind Fundtiere
An den Nachkommen verlorener Tiere setzt sich das Eigentum des Menschen nach §§ 99 Abs. 1, 953 BGB fort,[20]WD 5 – 3000 – 108/20, Sachstand: Finanzierung von Tierheimen, S. 5, veröffentlicht am 29.10.2020. sodass sich mit der Fortpflanzung auch die fundrechtliche staatliche Verwahrungspflicht fortsetzt.
Umwälzung der staatlichen Fürsorgepflicht auf Tierheime
Der Staat, hier die Fundbehörde, hat nach § 967 BGB die fundrechtliche Pflicht, das Tier in Verwahrung zu nehmen und zu versorgen. Die Verwahrung beinhaltet die Pflichten nach §§ 2 ff. TierSchG, zu denen insbesondere die Ernährung, Pflege und tierärztliche Versorgung gehören.
Dieser Rechtssystematik folgend, bedeutet das konkret, dass die Fundbehörde das Tier zur Versorgung ins Tierheim verbringen muss, wo es in ihrem Auftrag verwahrt wird.[21]BeckOK BGB/Gehrlein, 67. Ed. 1.8.2023, BGB § 693 Rn. 1. Da das Tierheim auf Basis vertraglicher Vereinbarung die Fundtiere für die Behörde verwahrt, kann das Tierheim die Kosten der Unterbringung von der Behörde erstattet bekommen. Allerdings bezeichnen Tierschutzverbände die Kostenerstattung schon seit geraumer Zeit als deutlich unzureichend.[22]BT Drucks. 19/15940, Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über den Stand der Entwicklung des Tierschutzes 2019 (Tierschutzbericht 2019), S. 23, veröffentlicht am 12.12.2019.
Gleichzeitig stehen Tierheime seit Jahren an ihrer Belastungsgrenze und verhängen zum Teil Aufnahmestopps. Viele Menschen nahmen während der Corona-Pandemie unüberlegt Tiere in ihre Obhut, um sich von Langeweile und Einsamkeit zu erlösen. Mit dem zurückgekehrten Vor-Corona-Alltag stellten viele dieser Menschen fest, dass sie dem Tier nicht gerecht werden können und sie es wieder abgeben möchten.
Zudem stiegen durch die Inflation nicht nur die Kosten der „Haustier“ haltenden Menschen, sondern auch die der Tierheime. Die meisten Tierheime sind gemeinnützige Vereine, die nicht unmittelbar staatlich finanziert werden. Sie sind für ihre Finanzierung auf ehrenamtliches Engagement, die Beantragung staatlicher Fördermittel und – vor allem – auf Spendengelder angewiesen.[23]WD 5 – 3000 – 108/20, Sachstand: Finanzierung von Tierheimen, S. 4 ff., veröffentlicht am 29.10.2020. Nehmen Tierheime Tiere nicht auf, verkaufen oder verschenken Menschen die Tiere in unbekannte Haltungsbedingungen oder setzen diese einfach aus.[24]E. Knoche, Tierheime in Not – Wohin nur mit den süßen Kätzchen?, Die ZEIT, abrufbar unter: https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-08/tierheime-in-not [zuletzt abgerufen am 14.11.2023]. Wiederum kann das Tierheim erst durch die Verwahrung eines Fundtieres im Auftrag der Fundbehörde einen Kostenerstattungsanspruch gegen den Staat geltend machen.[25]BT Drucks. 19/15940, Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über den Stand der Entwicklung des Tierschutzes 2019 (Tierschutzbericht 2019), S. 23, veröffentlicht am 12.12.2019.
Fundrechtliche Schranken für privates Engagement
Grundsätzlich ist es möglich, dass Sie selbst die Fürsorge für ein Fundtier nach § 966 Abs. 1 BGB übernehmen. Hierfür müssen Sie zuvor unbedingt die Fundbehörde nach § 965 Abs. 2 S. 1 BGB kontaktieren. Sollten Sie gegen die Behörde einen Anspruch auf Kostenerstattung[26]BVerwG, Urt. v. 26.04.2018, Az. 3 C 24.16, abrufbar unter https://www.bverwg.de/de/260418U3C24.16.0. geltend machen wollen, steht diesem das Recht der Behörde auf Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 GG gegenüber, wonach sie über die Art und Weise ihrer Aufgabenwahrnehmung selbst entscheiden darf. Ob die Fundbehörde die Kosten der Versorgung übernimmt, obliegt ihrer organisatorischen Entscheidung über den Verbleib von Fundtieren und der Frage nach der Erforderlichkeit einer privaten Versorgung.[27]BVerwG, Urt. v. 26.04.2018, Az. 3 C 7.16, abrufbar unter https://www.bverwg.de/de/260418U3C7.16.0.
So kann die Fundbehörde nach § 967 BGB eine Ablieferungspflicht des Fundtieres anordnen. Da die Fundbehörde nur tätig wird, wenn das Tier auch in ihren örtlichen Zuständigkeitsbereich fällt, unterliegt die Qualität der Versorgung des Tieres wiederum der Willkür seines Fundorts.[28]BVerwG, Beschluss vom 28.08.2013, Az. 8 B 60.12, abrufbar unter https://www.bverwg.de/de/280213B8B60.12.0.
Fundrechtlich gesehen können Sie das Tier gemäß § 973 Abs. 1 S. 1 BGB zumindest vor Ablauf von sechs Monaten ab Anzeige bei der Fundbehörde ohnehin nicht einfach selbst behalten.[29]BeckOK BGB/Kindl, 67. Ed. 1.8.2023, BGB § 973 Rn. 2. Denn das Fundrecht zielt darauf ab, verlorene Tiere den Menschen zurückzugeben, in deren Eigentum sie stehen.[30]BVerwG, BVerwG, Urt. v. 27.2.2020, Az. 3 C 11/18, abrufbar unter https://www.bverwg.de/de/270220U3C11.18.0 . Erst wenn dieses nicht möglich ist, werden die Eigentumsverhältnisse neu geordnet.[31]BVerwG, Urt. v. 26.04.2018, Az. 3 C 24.16, abrufbar unter https://www.bverwg.de/de/260418U3C24.16.0 .Absurd daran ist, dass viele Tiere gefunden und zunächst vom Staat für „ihre“ Menschen verwahrt werden, obwohl unter Umständen dieselben Menschen das Tier zuvor aussetzten, da sie kein Interesse an ihm hatten. Die Fundbehörde misst ihren Erfolg primär nicht daran, das Tier einem neuen, artgerechten Zuhause zuzuführen, sondern es seinem alten Zuhause, in dem es möglicherweise nicht mehr willkommen ist, zuordnen zu können.
Solidarität als Resultat der Verantwortung des Menschen für das „Haustier“
Der Mensch wird seinem Auftrag nach § 1 TierSchG, das Tier aus seiner Verantwortung heraus zu schützen, nicht gerecht. Denn durch den faktischen Vergleich von Tieren mit Sachen unterliegen aufgefundene Tiere dem Fundrecht. Ziel des Fundrechts ist der Schutz von Eigentum und Vermögen.[32]BeckOK BGB/Kindl, 67. Ed. 1.8.2023, BGB § 965 Rn. 1. Daher fallen bereits solche Tiere nicht in den – geringen, aber zumindest vorhandenen – Schutz des Fundrechts, die keinem Menschen „gehören“ oder in einem so schlechten Zustand sind, dass das Rechtssystem davon ausgeht, dass der Mensch durch ihren Verlust nicht im Bestand seines Vermögens bedroht sein könne. Der Staat verwahrt Fundtiere für den Menschen und dessen Eigentumserhalt und nicht aufgrund ihrer etwaigen Bedürftigkeit.
Anknüpfungspunkt ethischer Solidarität sollte die Bedürftigkeit eines Lebewesens sein und nicht die Möglichkeit, es dem Eigentum eines anderen Lebewesens zuordnen zu können. Aus der Entscheidung des Menschen, ein Tier in seine Obhut zu nehmen, folgt seine Verantwortung, für das Wohlergehen des Tieres einzustehen. Dabei ist das Tierleben nicht bloßer Bestandteil des Hausstands des Menschen, sondern besitzt einen eigenständigen Wert- und Würdegehalt. Sobald der Mensch erkennt, dass auch er das „Mitgeschöpf“ des Tieres ist, muss das Tierleben mit eigenen, durchsetzbaren Rechten ausgestattet werden. Das Miteinander von „Mitgeschöpfen“ gebietet eine Begegnung auf Augenhöhe, die eine Einordnung des Tieres als Rechtssubjekt erfordert, um ihm eine Teilhabe am Solidarversprechen zu ermöglichen.
Raphaela Reif war im Herbst/Winter 2023-24 Rechtsreferendarin bei PETA Deutschland e.V. in Berlin.
Quellen