In der Politik ist das Thema noch nicht angekommen, Tierrechtler:innen, Moral- und Rechtsphilosoph:innen diskutieren aber schon seit geraumer Zeit: Können und sollen Tiere subjektive, unveräußerliche Rechte erhalten, wie Menschen sie (in Form von Grundrechten) bereits haben?[1]Statt vieler nur: Caroline Raspé, Die Tierliche Person, 2013; Saskia Stucki, Grundrechte für Tiere, 2016.
Nach dem Forschungsstand der Schweizer Juristin Saskia Stucki haben Tierrechte momentan eine Art „Anwartschaft“ oder „Kandidatenstatus“ auf eine rechtliche Anerkennung. Sie sagt, bei der Entstehung eines jeden neuen Rechts bzw. neuer Rechtsträger:innen seien drei Phasen zu unterscheiden: Die Ideenphase, in der das Recht als Idee auf intellektueller Ebene entstehe und sukzessive entwickelt werde, über die Konsolidierung in Politik und Recht (Emergenz- oder Sichtbarkeitsphase) bis hin zur Anerkennungsphase, also der rechtlichen Anerkennung und Kodifikation. Die Tierrechte befänden sich derzeit zwischen dem ersten und dem zweiten Intervall dieser „langwierigen Reifephase“.[2]Saskia Stucki, One Rights, 2023, S. 4 (mit weiteren Nachweisen).
Neuer Ansatz: One Rights, Tierrechte als Menschenrechte
Mit „One Rights: Human and Animal Rights in the Anthropocene“ hat Saskia Stucki im Jahr 2023 den dritten und letzten Teil ihrer Post-Doc-Forschung „Trilogy on a Legal Theory of Animal Rights“ veröffentlicht. Wie bereits in ihrer 2013 erschienenen Dissertation ist die Botschaft klar: Angesichts der Diskrepanz zwischen dem vorgeblich hohen Anspruch an den ethischen Tierschutz und den realen Grausamkeiten der Tierausbeutungspraxis müsse ein Wechsel vom objektivrechtlichen Tierschutz zu subjektiven Tierrechten geschehen.[3]Saskia Stucki, Grundrechte für Tiere, 2013, S. 396; S. 399. Nur so könne eine Gerechtigkeit hergestellt werden, die durch die aktuellen Praktiken der Tiernutzung faktisch verhindert werde. Tiere müssten endlich die Art von Rechten erhalten, die Menschen aufgrund ihres Menschseins haben. Den eher neuartigen Begriff der „One Rights“ erläutert Stucki in Anlehnung an die naturwissenschaftliche „One Health“-Strömung („One Welfare“) – wobei der Begriff vor allem praktikabel ist. Noch wichtiger ist, was inhaltlich mit ihm ausgedrückt werden soll: dass das Recht für die soziale und ökologische „Schicksalsgemeinschaft“ von Menschen und Tieren untrennbar verbunden sein muss.[4]Saskia Stucki, One Rights, 2023, S. 9; ausführlich S. 56 f. sowie S. 79 ff.
Warum Tiere (Menschen-)Rechte benötigen und wie sich etablierte Theorien für ihre Conclusio nutzbar machen lassen, erklärt die Autorin in vier Kapiteln auf gerade einmal 102 Seiten der auf Springer Briefs in Law erschienenen Publikation. Diese ist im Open Access abrufbar; die Lektüre ist uneingeschränkt zu empfehlen.
Das Buch erhebt keinen Anspruch darauf, politische, praktische und rechtliche Lösungen für die vorstellbaren Konflikte zu liefern, die die Rechteinhaberschaft von Tieren mit konfligierenden Menschenrechten bringen könnte. Es soll vielmehr als (Denk-)Anstoß in eine neue Richtung verstanden werden, weg von einem der schlimmsten Missstände unserer Zeit. Dies erlaubt es der Autorin, über die Darstellung der Menschenrechtstheorien hinaus zu beleuchten, welche Umstände Tierrechte nötig machen. Das praktische Bedürfnis nach Gerechtigkeit für Tiere ist nach Stuckis Ergebnis am Ende der entscheidende Faktor für ihre Rechtfertigung.[5]Saskia Stucki, One Rights, 2023, S. 42. Sie legt Wert auf die Feststellung, dass auch Menschenrechte nicht von jeher angeboren gewesen seien, sondern ihre Existenz einer philosophischen Begründung bedurft hätte[6]Saskia Stucki, One Rights, 2023, S. 20. – und dass sie vor allem deshalb entstanden seien, weil sie angesichts von Ungerechtigkeiten, Schrecken des Krieges und sonstiger Nöte für ein Zusammenleben essentiell waren („rights come from wrongs“).[7]Saskia Stucki, One Rights, 2023, S. 51 mit weiteren Nachweisen.
Kapitel 1: Auf zur Revolution!
Saskia Stuckis Anliegen ist es also, die Frage nach Tierrechten durch die Linse der Menschenrechte zu betrachten: Menschenrechte, so führt sie aus, seien naturgemäß dynamisch – und inhaberschaftlich ebenso ausdehnbar wie im Hinblick auf ihren Inhalt. Die Geschichte zeige – etwa bei den Frauenrechten oder dem Recht auf eine lebenswerte Umwelt – die Unmöglichkeit einer statischen Konzeption dieser Rechte und deren Inhaberschaft. Dies müsse umso mehr in einer Zeit gelten, in der nicht nur Pandemien und Bienensterben die sozio-ökonomische Abhängigkeit allen Lebens auf der Erde verdeutlichen. In Kapitel 1 führt Stucki aus, wie sich tierliche Rechte von bloßem klassischem Tierschutz abheben, warum Tierschutz eben nicht ausreiche – und wie sich durch die Aktivitäten von Tierrechtsorganisationen,[8]Beispielhaft das Non Human Rights Project mit den Habeas-Corpus-Klagen für die Befreiung inhaftierter Elefanten, siehe dazu Ein Jemand sein (Teil 1) – Tierrechtsblog; Ein Jemand sein (Teil 2) … Weiterlesen Bürger:innen-Initiativen, durch Gerichtsentscheidungen und einzelne Gesetzesänderungen weltweit die Vorstellung von Menschenrechten langsam, aber stetig auf Tiere erstrecke.[9]Saskia Stucki, One Rights, 2023, S. 5, S. 10.
Die Einwände, die dagegen insbesondere von Menschenrechtler:innen erhoben werden, sind klar anthropozentrisch. Einer der Haupteinwände ist, die Erstreckung von Menschenrechten auf Tiere sei aus konzeptionellen Gründen gar nicht möglich. Ein zweiter bringt vor, diese Erstreckung sei (politisch-praktisch) nicht gewünscht.
Beide Einwände werden in den beiden Folgekapiteln behandelt und von der Autorin glatt widerlegt.
Kapitel 2 und 3: (Menschen-)Rechte für Tiere: wenn ja – wieso?
Erster Einwand: Menschenrechte nur für „Menschen“
Diejenigen, die sagen, Tiere könnten gar keine Rechte haben, stützen ihre Auffassung darauf, dies verstoße unter anderem gegen das „zentrale Axiom der Menschenrechte“ als ausschließlich menschliche Rechte „aufgrund des Menschseins“ und fordern damit eine Auseinandersetzung mit dem Menschenrechtsbegriff heraus. Im Rahmen der Rechtfertigung und Entwicklung dieses Begriffs kommt die Autorin zu dem Ergebnis, dass er sich gerade weg von der naturalistischen Auslegung (Menschenrechte seien untrennbar mit der menschlichen „Natur“ verbunden) und hin zu einer nicht-exzeptionalistischen Rechtfertigung hin entwickelt habe – und entkräftet damit den Einwand, Tiere könnten mangels Menschseins keine Rechtsträger sein. Die nicht-exzeptionalistische Rechtfertigung des Menschenrechtsbegriffs stütze sich gerade nicht auf eine vermeintliche „Natur des Menschen“ und die mit dieser untrennbar verbundenen Eigenschaften. Hier gehe es vielmehr um verbindende Elemente und geteilte Fähigkeiten. Nur bei Berücksichtigung dieser könnten auch die spezifischen Interessen, Bedürfnisse und auch die Verletzbarkeit von Tieren als fühlende Lebewesen – die sie mit den Menschen im Grundsatz teilen – adressiert werden. Diese Auslegung ermögliche es, neben menschlichen Tieren alle anderen Tiere in den Kreis derer einzubeziehen, die Rechte haben können. Die praktische Notwendigkeit von Tierrechten sei aus historischen und sozialen Gründen entstanden – um sie zu adressieren, sei die Einnahme einer politischen Perspektive notwendig.[10]Saskia Stucki, One Rights, 2023, S. 42.
Zweiter Einwand: Tierrechte gefährden Menschenrechte
Im Anschluss entkräftet die Autorin nach ausführlicher Auseinandersetzung den praktisch-politischen Einwand und insbesondere die Behauptung, eine Anerkennung von Tierrechten könnte die Menschenrechte gefährden oder sogar entwerten. Nach ihren zustimmungswürdigen Ausführungen fordern ethische Gründe die Ausdehnung der Menschenrechte auf nicht-menschliche Tiere geradezu: Das Gerechtigkeitsdenken zwinge zur Anerkennung grundlegender Rechte zum „Ausgleich“ des Leids, das Tiere zu erfahren fähig seien – und faktisch erfahren – wie Menschen auch. Diese Rechte gelte es angesichts gemeinsamer Unrechtserfahrungen eher zu teilen, als jemanden auszuschließen, weil auch die Erfahrung zeige, das hiervon potenziell alle Rechtsträger:innen (auch die vermeintlich „abgebenden“) profitierten.[11]Saskia Stucki, One Rights, 2023, S. 53; S. 62 f; S. 64: “synergistic approach”. Diese innere Verbundenheit des vermeintlich „abgebenden“ und „empfangenden“ Bereichs zeigt Stucki anhand der Parallele der Tierrechtsbewegung mit anderen sozialen Freiheitskämpfen, insbesondere der Frauenbewegung.[12]Saskia Stucki, One Rights, 2023, S. 68 f. Der Hinweis auf die Verbundenheit zwischen Tierquälerei und interpersoneller Gewalt ist ebenso enthalten wie die Beispiele der „animalistic dehumanization“ als Rechtfertigung zur Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen wie der Jüd:innen („Ratten“) vor und während des Zweiten Weltkriegs oder der Tutsi („Kakerlaken“) während des Genozids in Ruanda.[13]Saskia Stucki, One Rights, 2023, S. 70. Das Kapitel schließt mit der Darstellung des sozio-ökonomischen Nexus zwischen Tieren und Menschen, also Tier- und Menschenrechten, der ein Tätigwerden umso dringlicher mache, als die Tierausbeutung massiven Anteil an der ökologischen Notfallsituation habe, die der Planet Erde gerade durchlebe.
Kapitel 4: (Menschen-)Rechte für Tiere – und die gesamte planetare Gemeinschaft
In Kapitel 4 schließt Stucki ihre Überlegungen ab, indem sie das „One Rights Paradigma“ aufstellt – die Notwendigkeit gleicher Rechte für Menschen und Tiere, die sich gegenseitig stärken, aber auch unabhängig voneinander Berechtigung beanspruchen. Sie unterstreicht erneut die These, dass die Einbeziehung der Tierrechte in das Menschenrechtsmandat, d.h. ein gleichzeitiger Schutz von Menschen- und Tierrechten die funktional bessere normative Antwort auf die menschenrechtsrelevanten Probleme von Diskriminierung, Unterdrückung, Gewalt, Entmenschlichung sowie existenzielle Umwelt- und Gesundheitsbedrohungen seien – fügt aber hinzu, dass („wie das ecuadorianische Verfassungsgericht uns kürzlich in Erinnerung gerufen hat“) „Tiere nicht nur aus einer ökosystemischen Perspektive oder mit Blick auf die Bedürfnisse des Menschen geschützt werden sollen, sondern vor allem aus einer Perspektive, die sich auf ihre Individualität und ihren Eigenwert konzentriert“.[14]Saskia Stucki, One Rights, 2023, S. 93.
Auf Seite 96 fasst Stucki schließlich zusammen, welche Rechte diese Betrachtung in erster Linie betreffen soll. Sie nennt dabei neben dem Recht auf einen Personenstatus („Das Recht, Rechte zu haben“) und prozessualen Rechten vor allem universelle materielle Rechte wie das Recht auf Leben, auf körperliche und psychische Unversehrtheit, Freiheit, Familie. Auch das Folterverbot soll sich selbstverständlich auf Tiere erstrecken.[15]Saskia Stucki, One Rights, 2023, S. 96.
Explizit lässt sie offen, wie die politische Gestaltung aussehen könnte/sollte. Sie spricht ferner an (und lässt offen), ob möglicherweise auch Rechte der Natur Teil dieses „One Rights Paradigma“ sein könnten oder sogar müssten – ein guter Gedanke, der sicher Stoff für eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema gibt, für ein 102 Seiten starkes Werk aber auch nicht zu Ende gedacht werden muss. Der Abschlussgedanke – eine planetare Gemeinschaft zu begründen, die von einer post-anthropozentrischen Rechtsidee lebt – belegt, wie inklusiv und einleuchtend ihr Ansatz ist.
Ausblick: Was haben die Tiere davon?
Geht man also mit Saskia Stucki davon aus, dass sich Tierrechte momentan in Phase „eineinhalb“ von insgesamt drei zu durchlaufenden befinden, könnte man annehmen, die Hälfte des Weges zur Anerkennung von Tierrechten sei geschafft. Das mag in der Theorie nach einem großen Fortschritt klingen – eine für die Tiere oder die Gesellschaft spürbare Veränderung wird damit faktisch aber noch nicht herbeigeführt. Angesichts der ökologischen und politischen Bedrohungen und der Dringlichkeit eines ethischen Erkenntnis- und Evolutionsschritts ist das besprochene Buch als Impulsgeber so wichtig, da es die bestehenden Ungerechtigkeiten mit wissenschaftlicher Expertise untersucht und belegt, dass die fundierten Lösungsangebote in Form progressiver und nachhaltiger Rechtsfortschritte als tragfähige Brücke zwischen Moral und Recht dienen können.[16]Saskia Stucki, One Rights, 2023, S. 57.
ist seit Dezember 2021 Teil des Rechtsteams bei PETA in Berlin mit den Schwerpunkten Tier(schutz)recht, Tierethik und Verfassungsrecht.
Quellen