„Teleologische Annahmen“: Christine Korsgaards Tierethik (Teil 2)

Was sich von Spinnenphobien über Tierrechte lernen lässt

Im ersten Teil dieser Besprechung zu Christine Korsgaards Band „Tiere wie wir“[1]Christine M. Korsgaard: Tiere wie wir. Warum wir moralische Pflichten gegenüber Tieren haben, München: Beck 2021 [engl. Org. 2014]; alle in Klammern genannten Seitenzahlen im Text beziehen sich auf … Weiterlesen stand ihre „Theorie der Gebundenheit von Bedeutung“ im Zentrum. Für Korsgaard war mit dieser zentralen Theorie eine ganz entscheidende tierethische Einsicht verbunden: Die so häufig anzutreffende Annahme, dass Tiere zwar moralisch „irgendwie wichtig“, aber prinzipiell „weniger wichtig als Menschen“ seien, kann mit Korsgaards Theorie als eine nicht nur falsche, sondern vor allem als eine sinnlose Aussage zurückgewiesen werden.

Dass die Bedeutung eines Wesens (und damit dessen moralische „Wichtigkeit“) immer gebunden ist, heißt nämlich für Korsgaard: Sie kann weder quasi-mathematisch gegen die Bedeutung anderer Wesen abgewogen werden (nach dem Motto: Sieben Hunde sind so wichtig wie ein Nashorn) noch kann sie von einem Standpunkt aus betrachtet werden, der selbst „ungebunden“ und vermeintlich objektiv erscheint. Einen solchen unmöglichen Standpunkt nennt Korsgaard „teleologisch“: Dieser Begriff wird uns später noch begegnen und bezieht sich auf eine zentrale ethische Konkurrenztheorie zur Kantischen Ethik, an der sich Korsgaard orientiert.

Teleologische Annahmen bilden also das Gegenteil von Korsgaards „Theorie der Gebundenheit von Bedeutung“, weil sie unterstellen, es gäbe einen objektivierbaren Standpunkt in der Welt (einen Zielpunkt – „telos“ gr. = Ziel), von dem aus die Dinge der Welt sinnvoll hierarchisch zu ordnen wären. Dass es nicht möglich ist, die Bedeutung verschiedener Wesen gegeneinander aufzuwiegen oder in eine hierarchische Ordnung zu bringen, hat also damit zu tun, dass Lebewesen selbst „die Entitäten sind, für die etwas von Bedeutung ist“ (89).

„Tiere wie wir“ – oder doch nicht?

In dieser Fortsetzung soll nun eine weitere Weichenstellung in Korsgaards tierethischem Nachdenken näher diskutiert werden. Es geht um die auf den ersten Blick vielleicht irritierende Tatsache, dass Korsgaards Ethik eine grundlegende Voraussetzung nicht teilt, die viele andere moderne Tierethiken machen. Diese Voraussetzung lautet: Um Tiere moralphilosophisch angemessen zu berücksichtigen, muss ihre empirische Gleichwertigkeit dargelegt werden. Viele moderne Tierethiken argumentieren deswegen mit Charles Darwin und verweisen darauf, dass es keine substanziellen Unterschiede zwischen Menschen und Tieren gibt; oder sie verweisen auf das pathozentrische Argument, dass die Leidens- bzw. Empfindungsfähigkeit alle Tiere – menschlich oder nicht – gemeinsam auszeichne. Aus diesem Grund sprechen moderne Ansätze dann folgerichtig von „nicht-menschlichen“ oder „anderen“ Tieren bzw. vom Menschen als Tier.

Auch wenn Christine Korsgaard durchaus nicht nur auf der Linie der modernen Tierethik, sondern auch der Tierrechtsposition argumentiert, basieren ihre Überlegungen überraschenderweise gerade nicht auf der oben genannten Prämisse. Für Korsgaard ist vielmehr klar: Es gibt durchaus einen entscheidenden Unterschied zwischen Menschen und Tieren. Korsgaard wendet sich also gegen die auf den ersten Blick so sympathische Annahme, wir müssten angesichts einer Tradition der Tierfeindlichkeit heute nur umso entschlossener zeigen, dass „Tiere wie wir“ seien (ironischerweise heißt ihr Band zumindest in der deutschen Übersetzung dennoch genauso). Es gebe durchaus etwas, das „am menschlichen Leben wirklich anders ist“ (57), so Korsgaard.

Es überrascht ein wenig, dass Korsgaard in der Folge durchaus konventionelle Unterscheidungen heranzieht, wenn sie etwa sagt, dass für die Wahrnehmungsweise von Tieren „der Einfachheit halber“ das Wort „instinktiv“ verwendet werden könne. Für Menschen nimmt sie demgegenüber den (Kantischen) Begriff der Rationalität als Beschreibungskategorie in Anspruch: Er beschreibt eine normative Kraft, die für Korsgaard in einer bestimmten Form des Selbstbewusstseins begründet liegt. Auch wenn diese Gegenüberstellung von Instinkt und Rationalität reichlich antiquiert erscheint: Es gelingt Korsgaard durchaus, diese mindestens diskussionswürdige Gegenüberstellung sinnvoll auszuleuchten. Sie verdeutlicht den Unterschied zunächst, indem sie die Weltwahrnehmung von nicht-rationalen Tieren genauer beschreibt:

„Wenn ein nicht-rationales Tier darüber nachdenkt, was zu tun ist (wenn es denn nachdenkt), denkt es über Dinge in der Welt, so wie es sie wahrnimmt, aber nicht über seine Einstellung gegenüber diesen Dingen nach.“ (60)

Was zunächst kompliziert klingt, ist eigentlich recht simpel: Korsgaard scheint sagen zu wollen, dass Menschen – als rationale Wesen – eben dieser Einschränkung nicht unterliegen. Menschen können also durchaus nicht nur über die „Dinge der Welt“, sondern auch über ihre eigenen „Einstellungen gegenüber diesen Dingen“ nachdenken. Und Sie können und sollten beides voneinander unterscheiden.

Spinnenphobien und Tierethik

Korsgaard verdeutlicht den Unterschied anhand des Phänomens der Spinnenphobie: „Wenn Sie etwa eine Spinne ‚gruselig‘ nennen, reden Sie so, als wäre ihre Einstellung gegenüber der Spinne eine Eigenschaft der Spinne selbst“, so Korsgaard. Eine solche Zuschreibung wäre also genau jener Fehler, den rationale Wesen nicht begehen sollten: Wer eine Spinne „gruselig“ nennt, unterscheidet nämlich nicht zwischen der Spinne und der eigenen Einstellung zu ihr, sondern vermengt beides unzulässig miteinander. Auch wenn dieser Kurzschluss offensichtlich falsch und irrational ist, kann er in seinen Auswirkungen dennoch ausgesprochen wirkmächtig sein, wie Korsgaard anmerkt:

„Wenn Sie sich überlegen, wie schwer es Ihnen fallen würde, eine Spinne über ihren Körper krabbeln zu lassen, werden Sie sehen, wie gebieterisch solche ‚Anweisungen‘ sind.“ (60)

Was Korsgaard am Beispiel der Spinnenphobie zeigt, hat eine gleichwohl viel weiterreichende Bedeutung für nahezu alle tierethischen Fragen. Zunächst deswegen, weil das Beispiel die etwas schroff anmutende Differenzierung zwischen rationalen und nicht-rationalen Wesen erschließt: Gerade für die moralischen Handlungsfragen ist Rationalität deswegen entscheidend, weil sie es uns erlaubt (genauer gesagt: weil sie uns dazu nötigt), zwischen der eigenen Perspektive und denen anderer Wesen zu unterscheiden. Man könnte auch sagen: Die Rationalität nötigt uns zur Einsicht in die „Theorie der Gebundenheit von Bedeutung“ (Link zum ersten Teil). Die teleologische Sichtweise hingegen, die diese Unterscheidung nicht kennt und deswegen alles vom Menschen und auf den Menschen hin begreifen will, ist für Korsgaard daher zutiefst irrational:

„Wenn also die Art, wie wir mit anderen Tieren umgehen, in der Ansicht gründet, dass sie nicht unabhängig von unseren menschlichen Bedürfnissen existieren, wenn wir so handeln, als wären die Tiere zu unserem Gebrauch in der Welt, dann hat unsere Rationalität an beiden Fronten versagt, und mit ihr unsere Humanität.“ (76)

Korsgaards Gegner: Teleologische Weltbilder

Korsgaards Argument ist also: Wer glaubt, sich etwa unter Berufung auf seine Vernunft von anderen Wesen moralisch abheben zu können, unterläuft eben diese Vernunft. Sie enttarnt damit gewissermaßen den arroganten Gestus, die eigene Vernunft herbeizuzitieren, um sich über Tiere zu erheben. Wer so argumentiere, begebe sich in einen fundamentalen Selbstwiderspruch – Korsgaard zitiert zur Karikatur dieser Haltung an mehreren Stellen George Elliots Roman „Middle March“: „Wir sind“, heißt es dort, „in moralischer Ahnungslosigkeit geboren und halten die Welt für ein Euter, das unser großartiges Ich zu stillen hat.“

Und in der Tat: Man wird die bis heute anhaltende Wirkmächtigkeit teleologischer Weltbilder gar nicht überschätzen können: Viele Menschen scheinen bis heute fest daran zu glauben, dass Tiere nun einmal „für den Menschen da“ seien. Mit Korsgaard wird (spätestens) deutlich: Diese Annahme entspringt einem zutiefst irrationalen Weltbild.

Mit ihrer Kritik dürfte Korsgaard einen richtigen und wichtigen Punkt treffen. Allerdings kann man ihr womöglich auch vorwerfen, damit zugleich ein antiquiertes Bild von Tieren zu entwerfen, das dem Stand der modernen Ethologie nicht mehr entsprechen dürfte – etwa dort, wo Korsgaard die rationale Fähigkeit zu Moral als genuin menschliches Merkmal einstuft und dann über andere Tiere sagt: „Wir legen ständig alle erdenklichen Maßstäbe an uns an. Nichts davon scheint mir für das Leben anderer Tiere zu gelten. Fast hätte ich gesagt, dass sie, anders als wir, sich selbst so akzeptieren, wie sie sind, aber das trifft es natürlich nicht. Sie bewerten sich nicht, und darum kommt die Frage, ob sie sich akzeptieren, gar nicht auf. Ein Leben im Licht – oder im Schatten – eines normativen Selbstverständnisses ist eine völlig andere Art Leben, als die meisten Tiere es führen.“ (69)

Ist Moralfähigkeit selbst moralisch relevant?

Dennoch ist ihr Ansatz gerade für die tierrechtliche Frage nach dem Verhältnis von Moral und Rationalität durchaus ergiebig, vor allem im Hinblick auf einen entscheidenden Aspekt: Denn ebenso wie Korsgaard die Annahme ad absurdum führt, dass Tiere „für den Menschen da“ seien, weist sie eine weitere, ebenso populäre These zurück und behauptet: Die Fähigkeit, moralisch gut zu sein, ist selbst keineswegs moralisch relevant.

Es ist also falsch, aus der Moralfähigkeit des Menschen die Vorstellung abzuleiten, dass Tiere mangels ihrer Moralfähigkeit moralisch minderwertig seien. Auch hier wird man über Korsgaards rigide Unterscheidung zwischen moralfähigen Menschen und nicht moralfähigen Tieren streiten können und müssen. Offenkundig hat sie dabei jene Situationen vor Augen, in denen Menschen auf die vermeintliche Grausamkeit von Tieren verweisen (Katzen, die mit Mäusen spielen und Vögel, die ihre Geschwister aus dem Nest stoßen) und daraus ableiten, dass Tiere aufgrund ihrer Moralunfähigkeit auch nicht (oder nicht so sehr) moralisch zu berücksichtigen sind. Korsgaard hält dem entgegen: So sehr es auch unserem Empfinden widerspricht – Tiere, die so handeln, tun „ganz genau das, was sie tun sollen“ (84).

Auf die Idee, dass Tiere deswegen moralisch minderwertig seien, könnte man also nur kommen, wenn man wie im Falle der Spinnenphobie nicht zwischen den Dingen in der Welt und den eigenen Zugangsweisen differenziert – also einen beträchtlichen Kategorienfehler begeht.

Nochmal anders formuliert: Unsere – aus Korsgaards Perspektive genuin menschliche – Fähigkeit zur Moral macht uns den anderen Tieren gegenüber keinesfalls überlegen, und zwar deswegen, weil diese nicht unseren Maßstäben unterliegen:

„Ein Wesen ist einem anderen überlegen, wenn beide einem gemeinsamen Maßstab unterliegen, und das erste entspricht ihm und das zweite nicht oder in geringerem Maße. John, der viel Zeit mit seinen Kindern verbringt, um ihnen vorzulesen und bei den Hausaufgaben zu helfen, ist ein besserer Vater als George, der sich kaum um seine Kinder kümmert. Aber John ist kein besserer Vater als Michael, der gar keine Kinder hat. […] So können wir großen Wert auf unsere moralische Natur als etwas legen, das unser Leben bereichert und ihm einen Wert verleiht, ohne denken zu müssen, wir stünden über den anderen Tieren.“ (84)

Natürlich stellt sich dann unmittelbar die Frage: Nach welchem Maßstab bewerten wir dann das Leben eines Wesens, wenn nicht nach dessen Moralfähigkeit? Korsgaard antwortet darauf in einer Weise, die im nächsten Beitrag dieser Rezension noch weiter zu vertiefen sein wird – sie sagt nämlich: Es geht stets um einen Maßstab, „den wir durch Empathie gewinnen, also dadurch, dass wir die Dinge, die funktional gut für dieses Wesen sind, so betrachten, wie sie von seinem eigenen Standpunkt aus erscheinen […].“ (39) An diese Einsicht kann und sollte auch eine Theorie der Tierrechte anknüpfen und sich ganz im Sinne der „Theorie der Gebundenheit von Bedeutung“ stets fragen, welche Bedeutung bestimmte Handlungen und Entscheidungen aus Sicht der betroffenen Tiere haben.

 

Simone Horstmann
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Simone Horstmann, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie an der Technischen Universität Dortmund und hat mehrere Bücher zum Verhältnis von Theologie und Tierrechtsanliegen publiziert, zuletzt „Religiöse Gewalt an Tieren“ (2021) und „Interspezies Lernen. Grundlinien interdisziplinärer Tierschutz- und Tierrechtsbildung“ (2021). Sie lebt in Unna gemeinsam mit drei Hunden, zwei Katzen, sechs Hühnern und einem Menschen.

Quellen[+]